Artikel 1: Wahrscheinlichkeit und Unbestimmtheit

Die klassische Physik ermöglichte eine sehr genaue Vorausberechnung der Gestirne. Aufgrund dieses Erfolgs liessen sich die Physiker zur Behauptung hinreissen, alle physikalischen Vorgänge seien deterministisch und bei genauer Kenntnis von Anfangsbedingungen vorausberechenbar. In der Folge wurde und wird geglaubt, dass es sich bei Roulette-Kugel und Würfel nicht um echten Zufall handelt. Es wird argumentiert, dass man nur aus praktischen Gründen mit Wahrscheinlichkeiten rechnen muss, es sich aber prinzipiell um deterministische Vorgänge handelt.

In der Realität ist es jedoch prinzipiell unmöglich, die Seite eines Würfels, den man in die Luft wirft, vorauszuberechnen. Alle sechs Seiten sind gleichberechtigt und haben je eine Wahrscheinlichkeit von 1/6. Wenn man nicht mit Gewalt in den Quantenphänomenen extravagante Gesetzmässigkeiten sucht, gibt es keinen Grund, eine Quantenwahrscheinlichkeit einzuführen, die sich prinzipiell von der Wahrscheinlichkeit einer Roulette-Kugel unterscheidet.

Eine zentrale Problematik der Quantenmechanik, die z.B. bei der Polarisation von Photonen vorkommt, lässt sich gut an imaginären Würfeln aufzeigen, die jeweils eine von sechs verschiedenen Polarisationsrichtungen (x-, x+, y-, y+, z- oder z+) annehmen können. Man stelle sich vor, dass x- zu x+, y- zu y+ und z- zu z+ jeweils im gleichen entgegengesetzten Verhältnis stehen wie zwei gegenüberliegende Seiten eines normalen Würfels. x+ steht somit in nachbarschaftlichem Verhältnis zu y-, y+, z- und z+.

Wenn die Polarisation(srichtung) eines Würfels nur einmal gemessen werden kann und das Resultat eine der sechs Richtungen ist, sind folgende zwei Modelle (neben anderen) möglich:

Modell 1: Die Polarisation ist schon vor der Messung bestimmt

Modell 2: Die Polarisation ist bis zur Messung unbestimmt

Fordern wir weiter: <Würfel lassen sich paarweise korrelieren und Messungen an korrelierten Partnern ergeben immer gleiche Polarisation, auch wenn die Partner an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gemessen werden.> Somit lässt sich nach einer Messung die Polarisation des ungemessenen Partners vorhersagen. Von obigen zwei Modellen wird jetzt das zweite durch den Fall, bei dem die Polarisation eines ungemessenen Würfels bestimmt ist, als allgemeines Prinzip widerlegt.

In der Quantenmechanik gibt es analoge Fälle, in denen physikalische Grössen vorhergesagt werden können, die andererseits unbestimmt sein müssen. Auf die Würfel übertragen wird so argumentiert: <Die Polarisation zweier korrelierter Würfel ist von vornherein unbestimmt und nimmt erst bei der Messung eines Partners eine bestimmte Richtung an. Der ungemessene Partner wird augenblicklich so beeinflusst, dass eine Messung an ihm, wo und wann auch immer, das gleiche Resultat ergeben wird.>

Dagegen lässt sich folgendes einwenden: 1) Die Annahme, dass die Polarisation normalerweise bis zu einer Messung unbestimmt und ausnahmsweise schon vor einer Messung bestimmt ist, ist weder einheitlich noch elegant. 2) Es handelt sich um Fernwirkung. 3) Die Fernwirkung ist unabhängig vom Abstand zwischen den korrelierten Partnern.

Um uns der Polarisation von Photonen anzunähern, stellen wir uns Polarisationsfilter für solche Würfel vor. Ein Filter lässt sich in sechs verschiedene Richtungen einstellen, die wiederum mit x- bis z+ bezeichnet werden. Ein beliebiger Würfel passiert einen Filter jeder Einstellung zu (einer Wahrscheinlichkeit von) 50%. Hat der Würfel einen Filter (x+) passiert, so passiert er einen direkt folgenden Filter der gleichen Einstellung (x+) zu 100%, einen der entgegengesetzten (x-) zu 0% und einen einer benachbarten Einstellung (y-, y+, z-, z+) zu 50%. Kein Würfel kann also zwei direkt aufeinanderfolgende Filter entgegengesetzter Einstellungen (y- und y+) passieren. Stellt man aber einen dritten Filter einer benachbarten Einstellung (z-) dazwischen, so passiert ein beliebiger Würfel alle drei Filter zu 12,5% (50% von 50% von 50%).

Ein realistisches Modell zur Erklärung des geforderten Verhaltens ist folgendes: <Jeder Würfel ist von vornherein in eine der sechs Richtungen polarisiert. Ein Filter der gleichen Einstellrichtung wird zu 100%, einer der entgegengesetzten zu 0% und ein Filter einer benachbarten Einstellung zu 50% passiert. Es hängt also ausschliesslich vom Zufall ab (50% zu 50%), ob ein x+-polarisierter Würfel einen y+-Filter passiert oder nicht. Nach dem Passieren eines Filters ist der Würfel immer in die Richtung der Filtereinstellung polarisiert. Als beliebiger Würfel gilt ein Würfel, dessen Polarisation unbekannt ist, wobei jede der sechs Richtungen gleich wahrscheinlich ist.>

Für die weitere Diskussion fordern wir: <Eine Aussage über die Polarisation eines Würfels ist nur durch die Kombination eines Filters und eines Detektors möglich. Der Detektor zeigt das Eintreffen des Würfels bei dessen gleichzeitiger Zerstörung an. Man kann den Filter vor dem Detektor zwar in jede der sechs Richtungen einstellen, aber das Messresultat ist nur zweiwertig: Entweder trifft der Würfel im Detektor ein (Resultat 1) oder er wird vom Filter absorbiert (Resultat 0).>

Es ist somit unmöglich, die Polarisation eines Würfels zu messen, denn bei sechs möglichen Richtungen ist das Messresultat nur zweiwertig. In einem realistischen Modell ist es trotzdem sinnvoll, die Polarisation als sechswertiges Attribut eines Würfels anzunehmen. Das Modell der Quantenmechanik sähe stattdessen so aus: <Bei der Polarisation handelt es sich um ein zweiwertiges Attribut, das mit einer von sechs möglichen Einstellrichtungen eines Messgeräts verknüpft ist. Für jede Einstellrichtung (z.B. z-) ist der Würfel je nach Messresultat zu 100% in diese Richtung (z-) oder zu 100% in die entgegengesetzte (z+) polarisiert.>

Dieses Modell kann leicht zu der Annahme verleiten, dass Messungen jeweils gleicher Einstellrichtung an korrelierten Würfeln immer übereinstimmen müssen (d.h. nur Resultate 0:0 oder 1:1). Diese Annahme bringt das realistische Modell zu Fall, denn dieses erklärt Korrelationen zwischen jeweils zwei Würfeln damit, dass diese in die gleiche Richtung polarisiert sind. Weil aber für jeden Würfel das Passieren eines Filters bei vier von sechs Einstellungen vom Zufall abhängt, sind trotz gleicher Polarisation und gleicher Messfiltereinstellung Resultate 0:1 oder 1:0 möglich.

Im quantenmechanischen Modell ist die (gemeinsame) Polarisation korrelierter Würfel nicht von vornherein bestimmt. Werden jeweils beide Partner mit gleicher Filtereinstellung gemessen, wird postuliert, dass unabhängig von der Richtung dieser Einstellung entweder beide Partner den Filter passieren (1:1) oder keiner (0:0):

Polarisation eines Paars

Häufigkeit

Wahrsch. für 0:0

Wahrsch. für 0:1

Wahrsch. für 1:0

Wahrsch. für 1:1

Wahrsch. für Übereinstimm.

Unbestimmt

1

50%

0%

0%

50%

100%

Tabelle 1

Im realistischen Modell sind korrelierte Paare von vornherein jeweils in gleiche Richtung polarisiert. Bei Gleichverteilung beträgt die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit für jede der sechs Richtungen 1/6. Werden jeweils beide Partner mit gleicher Filtereinstellung gemessen, zeigt folgende Tabelle die Wahrscheinlichkeiten der vier möglichen Messresultate (0:0, 0:1, 1:0 und 1:1) an. Die Einstellung der beiden Messfilter ist x-.

Polarisation eines Paars

Häufigkeit

Wahrsch. für 0:0

Wahrsch. für 0:1

Wahrsch. für 1:0

Wahrsch. für 1:1

Wahrsch. für Übereinstim.

x-

1/6

0%

0%

0%

100%

100%

x+

1/6

100%

0%

0%

0%

100%

y-

1/6

25%

25%

25%

25%

50%

y+

1/6

25%

25%

25%

25%

50%

z-

1/6

25%

25%

25%

25%

50%

z+

1/6

25%

25%

25%

25%

50%

mittlere

Wahrsch.

33,33%

16,66%

16,66%

33,33%

66,66%

Tabelle 2

Das quantenmechanische Modell ergibt eine Übereinstimmung der Messwerte von 100%, das realistische hingegen nur von 66.66%. Das ist ein riesiger Unterschied, denn während das quantenmechanische Modell 0:1- und 1:0-Resultate überhaupt nicht zulässt, machen diese im anderen einen Drittel aller Messresultate aus. Wenn ein Modell als experimentell abgesichert gelten würde, dürfte man das andere normalerweise nicht weiter in Betracht ziehen. Was ist aber, wenn die Messgeräte nicht zuverlässig funktionieren? Untersuchen wir den Fall, bei dem nur 10% der Würfel, die theoretisch in einem Detektor eintreffen sollten, dort registriert werden:

Theoret. Messresult.

Wahrsch. für 0:0

Wahrsch. für 0:1

Wahrsch. für 1:0

Wahrsch. für 1:1

0:0

100%

0%

0%

0%

0:1

90%

10%

0%

0%

1:0

90%

0%

10%

0%

1:1

81%

9%

9%

1%

Tabelle 3

Aus Tabelle 3 kann man ersehen, dass von theoretischen 1:1-Resultaten nur 1% als solche registriert werden und bei 81% keiner der beiden Detektoren anspricht. Das quantenmechanische Modell ergibt unter dieser zusätzlichen Bedingung folgende Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten der vier möglichen Messresultate:

Theoret. Resultat

Häufigkeit

Wahrsch. für 0:0

Wahrsch. für 0:1

Wahrsch. für 1:0

Wahrsch. für 1:1

Wahrsch. für Übereinstim.

0:0

1/2

100%

0%

0%

0%

100%

1:1

1/2

81%

9%

9%

1%

82%

mittlere

Wahrsch.

90.5%

4.5%

4.5%

0.5%

91.0%

Tabelle 4

Anstatt Tabelle 2 ergibt das realistische Modell Tabelle 5:

Polarisation eines Paars

Häufigkeit

Wahrsch. für 0:0

Wahrsch. für 0:1

Wahrsch. für 1:0

Wahrsch. für 1:1

Wahrsch. für Übereinstim.

x-

1/6

81%

9%

9%

1%

82%

x+

1/6

100%

0%

0%

0%

100%

y-

1/6

90,25%

4,75%

4,75%

0,25%

90,5%

y+

1/6

90,25%

4,75%

4,75%

0,25%

90,5%

z-

1/6

90,25%

4,75%

4,75%

0,25%

90,5%

z+

1/6

90,25%

4,75%

4,75%

0,25%

90,5%

mittlere

Wahrsch.

90,33%

4,66%

4,66%

0,33%

90,66%

Tabelle 5

Der messbare Unterschied zwischen den zwei Modellen sieht jetzt kleiner aus als er ist. Nimmt man aber das Verhältnis von 0:1- (oder 1:0-) zu 1:1-Resultaten, ergibt sich aus Tabelle 4 der Faktor 9 (4,5% / 0,5%) und aus Tabelle 5 der Faktor 14 (4,66% / 0,33%). Wenn man die Entstehung korrelierter Paare weder steuern noch verfolgen kann, ist ein Messresultat 0:0 wertlos. Man kann es nicht vom Fall unterscheiden, wo nichts zu messen da war. Der Faktor zwischen der Häufigkeit von 0:1- und 1:1-Resultaten ist dann das einzige, was ein Experiment liefern kann. Liefert das Experiment hierfür den Wert 14, kann man das realistische Modell bestätigen, wenn man 1/10 als Wahrscheinlichkeit annimmt, mit der das Eintreffen eines Würfels in einem Detektor registriert wird. Nimmt man hierfür aber 1/15 an, kann man mit demselben Experiment auch das quantenmechanische Modell bestätigen.


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