Artikel 5: Physik und Erkenntnistheorie

Das Relativitätsprinzip besagt, dass gleichförmige Bewegungen in mechanischer Hinsicht gleichberechtigt sind. Die spezielle Relativitätstheorie weitet diese Gleichberechtigung auf die gesamte Physik aus. In dieser Theorie ist Ruhe nicht fundamentaler als Bewegung. Aber das Verhältnis von gleichförmiger Beschleunigung zu gleichförmiger Bewegung ist dasselbe wie das von gleichförmiger Bewegung zu Ruhe (gleichbleibender Ort). Wenn sich Ruhe nicht gegenüber Bewegung auszeichnet, liegt der Schluss nahe, dass sich auch Bewegung (erste Ableitung) nicht gegenüber Beschleunigung (zweite Ableitung) auszeichnet. Dieser Schluss, der der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegt, lässt sich ad absurdum führen, indem er konsequent auf höhere Ableitungen der Ortsfunktion angewandt wird.

Die Forderung, dass die physikalischen Gesetze unter allen Bedingungen dieselben sein müssen, ist ein elegantes Prinzip, um die Willkür beim Aufstellen physikalischer Gesetze einzuschränken. Aber wenn man konsequent ist, müssten die Gesetze so formuliert werden, dass sie auch in einem Auto, das auf einer kurvenreichen Gebirgsstrasse fährt, gültig sind. Das mag prinzipiell möglich sein. Es ist aber sinnvoller und effizienter, die Gesetze so zu formulieren, dass die Bewegung des Autos nur als expliziter Faktor berücksichtigt werden kann, denn es ist offensichtlich, dass die Bewegung des fahrenden Autos weniger fundamental ist als die Bewegung des Erdbodens. Aber genauso ist die Bewegung hochenergetischer Protonen oder die Bewegung eines gleichförmig beschleunigten Raumschiffs weniger fundamental als die Bewegung des Schwerpunkts unserer Galaxie.

Ähnlich verhält es sich mit Rotation, die schon Newton mit seinem berühmten Eimerversuch problematisierte: Wenn man einen mit Wasser gefüllten Eimer um die vertikale Mittelpunktsachse rotieren lässt, steigt das Wasser an den Wänden hoch, sobald es an der Rotation teilnimmt. Das zeigt, dass die Rotation absolut ist. In Verallgemeinerung des Relativitätsprinzips kann aber der Eimer als ruhend und die Welt um ihn als rotierend angesehen werden. Man ist dann mit Mach gezwungen, eine Wirkung der rotierenden Welt auf den ruhenden Eimer zu postulieren, die das Wasserhochsteigen an den Eimerwänden erzeugt.

Aber gibt es wirklich gute Gründe, den rotierenden Eimer als ruhend anzunehmen? Dass dies getan wurde, dürfte daran liegen, dass bei diesem Problem Denkmuster aktiviert wurden, die beim Nachdenken entstanden waren, ob die Erde oder der Himmel rotiert. Voraussetzung für Gleichberechtigung von Himmels- und Erdrotation ist eine apriori ausgezeichnete Rotationsachse. Diese war gegeben, solange die Erde als Zentrum der Welt angesehen wurde. Inzwischen hat die Erdrotationsachse durch die Erkenntnis ihrer komplizierten Bewegung ihre ausgezeichnete Stellung längst verloren, und die Rotationsachse des Eimers ist noch viel willkürlicher.

Geometrie ist die Wissenschaft des Raums. In diesem Jahrhundert hat sich der axiomatisch-formale Standpunkt durchgesetzt: <Eine Geometrie mit Parallelenaxiom ist nur ein Spezialfall allgemeinerer Geometrien und nicht durch eine denknotwendige Anschauungsform apriori gegeben, wie Kant meinte. Gekrümmte Räume nicht-euklidischer Geometrien sind fundamentaler als der ungekrümmte Anschauungsraum, denn letzterer ist nur ein Spezialfall der ersteren mit allgemeiner Krümmung Null.> Aber nach ähnlicher Logik ist ein Orchester fundamentaler als ein Musiker, denn der Musiker kann als Spezialfall eines Orchesters, nämlich des kleinstmöglichen, angesehen werden.

Raumkrümmung setzt die Vorstellung eines ungekrümmten Raums voraus. Die Krümmung wird durch die Abweichung vom ungekrümmten Raum ausgedrückt. Die Geometrie einer Kugeloberfläche gilt als gleichberechtigte 2-dimensionale Geometrie mit konstanter positiver Krümmung, wobei die Krümmung proportional zum Verhältnis einer Längeneinheit zur Kugelgrösse ist. Aber so wie sich Nicht-Rotation gegenüber Rotation dadurch auszeichnet, dass sie nicht einer willkürlichen Rotationsachse bedarf, so zeichnen sich die normalen n-dimensionalen Geometrien gegenüber den nicht-euklidischen mindestens dadurch aus, dass sie nicht einer willkürlichen Längeneinheit bedürfen. Aber nur bei Unabhängigkeit von einer Längeneinheit lassen sich im n-dimensionalen Raum Figuren bei gleichbleibender Form beliebig vergrössern und verkleinern.

Das Parallelenaxiom sagt etwas über Geraden aus. Aber auf einer Kugeloberfläche gibt es keine Geraden. Die 2-dimensionale Geometrie mit konstanter positiver Krümmung ist nicht mehr als die Oberflächengeometrie eines 3-dimensionalen Körpers. Es lassen sich aber beliebige Krümmungen postulieren und bei z.B. konstanter negativer Krümmung kann es sich nicht um eine Oberflächengeometrie eines Körpers einer endlich-dimensionalen normalen Geometrie handeln. Daraus wurde geschlossen, dass die nicht-euklidischen Geometrien allgemeiner und fundamentaler seien als die normalen. Aber postulieren kann man viel, z.B. Zahlen, von denen jede grösser als alle anderen ist.

Dass das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser eines Kreises nicht exakt 22/7 beträgt, lässt sich empirisch zeigen. Dass jedoch dieses Verhältnis bei allen idealen Kreisen exakt π beträgt oder dass sich die Seitenhalbierenden eines Dreiecks in exakt einem Punkt schneiden, lässt sich empirisch nicht zeigen. Nach dem axiomatisch-formalen Standpunkt sind solche Aussagen weder richtig noch falsch unabhängig von Postulaten einer Geometrie. Das erweckt den Eindruck, man könnte die Postulate beliebig wählen, z.B. so, dass das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser eines Kreises exakt 3 ergibt.

Zur Längenmessung benötigt man eine Längeneinheit. Man erhält 3 als Verhältnis von Umfang zu Durchmesser unter folgender Annahme: <Die Längeneinheit ist um den Faktor π/3 länger, wenn sie tangential zum Kreismittelpunkt als wenn sie radial zu diesem gerichtet ist. Sowohl Durchmesser als auch Umfang werden mit dieser Längeneinheit gemessen.> Aber auch diese Geometrie setzt die normale Geometrie voraus und ist wegen zusätzlicher Annahmen weniger fundamental als jene. Zudem ergeben sich Probleme bei Kreisen mit verschiedenen Mittelpunkten. Trotzdem lässt sich so eine Geometrie durch immer neue Zusatzannahmen vor einfacher Widerlegung schützen.

Der 3-dimensionale Raum der normalen Geometrie ist nicht Folge sondern Ursache der willkürlichen Definitionen, Axiome und Postulate von Euklid oder späterer Mathematiker. Kant hielt diesen Raum, wie auch die Zeit, für eine apriori gegebene denknotwendige Anschauungsform. Denn eine Erkenntnis wie die, dass sich die Seitenhalbierenden eines Dreiecks in exakt einem Punkt schneiden, ist in unserer Anschauung bzw. Vorstellung gegeben und ist unabhängig von einer ihr entsprechenden sprachlichen Formulierung. Beim axiomatisch-formalen Standpunkt geht es nur darum, so eine Formulierung aus anderen Formulierungen (Definitionen, Axiomen, Postulaten) nach formalen Regeln ohne Bezug zu einer subjektiven Anschauung abzuleiten. Der axiomatisch-formale Standpunkt strebt wie die Philosophie Platons nach 'objektivem' Wissen, das frei von subjektiven Empfindungen und Vorstellungen ist.

Da Kant die Anschauungsform des Raums mit dem physikalischen Raum gleichsetzte und somit die Begrenzung auf drei Dimensionen als apriori gegeben ansah, wurde sein Standpunkt durch die Entwicklung von Mathematik und Physik widerlegt. Wie sich das Volumen der 3-dimensionalen Oberfläche einer 4-dimensionalen Kugel berechnet oder wie viele Ecken, Kanten, Quadrate und Würfel einen 4-dimensionalen Würfel begrenzen, ist genauso apriori gegeben wie bei den analogen Fragen der 3-dimensionalen Geometrie. Die Antworten sind sogar elegante Beispiele dessen, was Kant als 'synthetische Urteile apriori' bezeichnete.

Kant unterteilte Urteile (Aussagen, Erkenntnisse) in analytische und synthetische und die synthetischen weiter in apriori und aposteriori. Analytische Urteile gehören in den Bereich der Begriffsbildung. Beispiele sind: <Ein Dreieck hat drei Ecken. 537 = 5× 10× 10 + 3× 10 + 7.> Synthetische Urteile aposteriori sind empirische Erkenntnisse. Beispiele sind: <Der Sonnenradius ist mehr als hundert Mal grösser als der Erdradius. Menschen leben in Symbiose mit vielen Bakterien und Viren.> Synthetische Urteile apriori sind Erkenntnisse, die nicht empirisch sondern durch korrektes Denken gemacht werden. Beispiele sind: <Kein Mensch kann gleichzeitig in Moskau und in New York sein. 8 × 9 = 72. Die Keplerschen Gesetze sind Spezialfälle der Newtonschen Mechanik.>

Die Unterscheidung in 'analytisch' und 'synthetisch', so wichtig sie theoretisch ist, ist praktisch meist undurchführbar, weil die Bildung der Begriffe in unseren Sprachen nicht definitiv gegeben ist. Ist 'Delphine sind Säugetiere' oder 'Blut ist rot' analytisch oder empirisch (synthetisch aposteriori)? Die synthetische Aussage '72 = 8 × 9' wird analytisch, wenn man sie vom Zehner- ins Neunersystem übersetzt: '80 = 8 × 10'.

'Synthetisch apriori' darf nicht mit 'angeboren' durcheinandergebracht werden. Dass die additive Mischung von Rot, Grün und Blau Weiss ergibt, ist angeboren aber nicht synthetisch apriori. Andere Farbwahrnehmungen sind denkbar und kommen bei anderen Tierarten vor. Wenn die Gesetze der Zahlen nur angeboren wären, wären sie durch Änderungen von Hirnstrukturen prinzipiell änderbar. Die Meinung, diese Gesetze seien nicht apriori gegeben sondern Folge der Peano-Axiome oder anderer mathematischer Fundierungen, ist nicht viel vernünftiger als die Meinung, sie seien Folge der Taschenrechner.

Kant führte diese Unterscheidungen u.a. im Bestreben ein, die Anwendbarkeit der geometrischen Methode auf metaphysische Probleme zu klären. Er kam zu folgendem Schluss: <In der Geometrie kommt man deshalb durch Denken alleine zu Erkenntnissen, die über die Analyse von Begriffen hinausgehen, weil es neben den Begriffen auch die Anschauungsform Raum gibt. Wenn so eine Anschauungsform fehlt, führt die geometrische Methode nicht zu sinnvollen Erkenntnissen.> In dieser Hinsicht müssen verschiedene mathematische Theorien und die moderne theoretische Physik als Rückfall in unkritische Metaphysik und willkürliche Spekulation bezeichnet werden.

Die geometrische Methode wird oft mit der axiomatisch-formalen Methode gleichgesetzt, mit der Euklid das Werk abfasste, das die Geometrie förmlich begründete. Während bei Euklid die Anschauung noch mitberücksichtigt wird, wird sie von Mathematikern des 19. Jhs. zur entbehrlichen, ja störenden Nebensache erklärt: Nur die ableitbaren Theoreme einer Geometrie, d.h. konkrete Formulierungen, seien wesentlich.

Philosophie und Wissenschaft kranken daran, dass über Begriffsbildung und Sprache wenig Klarheit herrscht. Da die Willkür des etablierten Sprachgebrauchs unsere Sprachen beherrscht, wird es notwendig sein, Begriffe, Begriffsbildung und Sprachstrukturen in Plansprachen transparent zu machen. Solche Plansprachen werden nicht nur viel harmonischer und effizienter als heutige Sprachen sein, sondern auch zu einem Fortschritt in Philosophie und Wissenschaft beitragen, der ohne sie unmöglich ist.

Das Problem der Begriffe wurde schon von Sokrates in aller Schärfe aufgeworfen. Platon löste es in einer dem Bibelzitat 'am Anfang war das Wort' analogen Weise: Die Begriffe seien apriori gegeben. Eine wichtige Konsequenz dieser Lösung ist die Ermöglichung heiliger Schriften mit ewigen, von menschlichem Verständnis unabhängigen Wahrheiten. Obwohl schon Aristoteles erkannte, dass Begriffe durch Abstraktion gebildet werden, dominiert die platonische Sicht bis heute. Auch wenn Physiker glauben, physikalische Grundgleichungen gingen den physikalischen Phänomenen voraus oder die Realität setze sich aus mathematischen Formeln zusammen, begehen sie einen analogen Fehler wie Platon, der die Realität aus den Begriffen anstatt die Begriffe aus der Realität ableitete.

Die ursprünglichste Begriffsbildung ist die durch Abstraktion (bzw. Induktion). Ausgehend von fünf Fingern und von anderen Fünfergruppen kann selbst ein taubstummes Kind den Begriff 'fünf' bilden. Wenn ein Kind sprechen und schreiben lernt, werden mit diesem (primären) abstrakten Begriff zusätzlich die Worte (konkrete Zeichen) '5' und 'fünf' assoziativ verknüpft (durch Konditionierung). Da diese Worte in verschiedenen gesprochenen, geschriebenen und mentalen Formen vorkommen, führt das zur Bildung eines neuen, sekundären Begriffs aus diesen Formen. Eigentlich sind es solche sekundären Begriffe und nicht konkrete Zeichen, die mit primären abstrakten Begriffen assoziativ verknüpft sind.

Wenn man ein Wort oft hört oder liest, es aber nicht gelingt, das Wort mit einem primären Begriff zu verknüpfen, übernimmt leicht der sekundäre Begriff die Funktion des primären. Das Wort steht dann für einen Begriff, der nur für sich selbst steht. Beim Lernen, wo und wann das Wort wie angewendet wird, entwickelt man ein Gefühl für den Begriff und glaubt ihn schliesslich zu verstehen. In vielen Fällen gibt es auch ein diffuses Nebeneinander zwischen einem (oder mehreren) primären und dem sekundären Begriff. Obwohl der Unterschied zwischen abstraktem Begriff und konkretem Zeichen spätestens im 12. Jh. bekannt war, ist er bis heute im wissenschaftlichen Bewusstsein kaum verankert.

Bei der axiomatisch-formalen Methode geht es nicht um abstrakte Begriffe sondern um konkrete Zeichen und deren formale Verknüpfung. Es ist ein grosser Irrtum, axiomatisch-formales Denken mit abstraktem Denken gleichzusetzen. Wenn aus gegebenen Zeichenfolgen nach formalen Regeln eine neue Zeichenfolge abgeleitet wird, ist das genauso konkret, wie wenn in einem Schachspiel durch einen erlaubten Zug eine neue Stellung erzeugt wird, und die neue Zeichenfolge ist genau so wenig Erkenntnis wie die neue Stellung. Was für Zeichenfolgen sich nach formalen Regeln aus anderen Zeichenfolgen ableiten lassen, ist Erkenntnis. Die Zeichenfolgen selbst können aber nur bei sprachlicher Interpretation Erkenntnis sein: Die konkreten Zeichen müssen in denkenden Subjekten wieder assoziativ mit primären Begriffen verknüpft werden.

Die mathematische Aussage '7 × 7 = 49' ist Teil der Sprache und sagt aus: 7 Gruppen zu 7 Einheiten lassen sich immer als 49 Einheiten auffassen. Bei '49' handelt es sich um einen Begriff, der nicht einfach durch Abstraktion, sondern schematisch gebildet wird, wobei die Zehnerpotenzen als Basis dienen: Da sich 49 Einheiten als 4 Gruppen zu 10 Einheiten plus 9 Einheiten auffassen lassen, benutzt man die Ziffernfolge '49', um auszudrücken, was auch durch '6 × 8 + 1' gegeben ist. Schematische Begriffsbildung ist elegant und effizient und wird in zukünftigen Plansprachen vorherrschen.

Der Begriff '>' lässt sich durch Abstraktion aus paarweisen Vergleichen bilden. Die Aussage 'Aus A > B und B > C folgt A > C' ist dann ein synthetisches Urteil apriori. Synthetisch, weil die Begriffsbildung von '>' nur auf Vergleichen von jeweils zwei Objekten basiert und hier drei Objekte vorkommen, und apriori, weil die Aussage nicht empirisch widerlegbar ist, sondern aus dem abstrakten Begriff (und nicht dem konkreten Zeichen) '>' folgt. Die Aussage ist somit logisch (d.h. vernünftig), aber unabhängig von einer axiomatisch-formalen Logik. In solchen Logiken kommt eine analoge Aussage als konkrete Zeichenfolge vor. Aber wenn man die Gültigkeit der Aussage mit so einer Logik begründet, verwechselt man Ursache und Folge. Es lässt sich ja auch eine Logik konstruieren, in der die Aussage 'Ein Mond umkreist die Erde' ableitbar ist, z.B. indem man ein entsprechendes Axiom einführt. Hier ist es offensichtlich absurd, die Tatsache, dass ein Mond die Erde umkreist, mit dieser Logik zu begründen.

Reelle Zahlen können auf der Basis einer 1-dimensionalen Anschauungsform, d.h. einer in beide Richtungen unbegrenzt vorgestellten Geraden, durch Abstraktion gebildet werden. Wenn auf dieser Geraden von einem Nullpunkt eine Einheitsstrecke festgelegt wird, entspricht jeder Punkt wie bei üblichen Zahlengeraden einer reellen Zahl. So wie der (primäre) Begriff 'grün' nur anhand grüner Dinge, so kann der (primäre) Begriff '-3.14' nur anhand anschaulicher Verhältnisse aufgezeigt werden. Dass jede zufällige reelle Zahl eine endlose Zehnerbruchentwicklung aufweist, ist ein synthetisches Urteil apriori. Und wenn schon einzelne Zahlen nicht bezeichnet werden können, ist die Frage nach der Aufzählbarkeit aller reellen Zahlen sinnlos.

Um komplexe Zahlen durch Abstraktion bilden zu können, benötigt man eine 2-dimensionale Anschauungsform, d.h. eine in alle Richtungen unbegrenzt vorgestellte Ebene. Neben Nullpunkt mit Einheitsvektor benötigt man einen Drehsinn. Jeder Punkt bzw. Ortsvektor auf dieser Ebene entspricht einer komplexen Zahl. Die Zahl selbst drückt nur das Verhältnis des Ortsvektors zum Einheitsvektor unter Berücksichtigung des Drehsinns aus, d.h. man abstrahiert von effektiven Längen, Richtungen und Drehsinn. Dem Produkt zweier komplexer Zahlen entspricht das Verhältnis desjenigen Ortsvektors zum Einheitsvektor, der im gleichen Verhältnis zum Ortsvektor der einen Zahl steht wie der Ortsvektor der anderen Zahl zum Einheitsvektor. Die Quadratwurzel einer komplexen Zahl ist im Gegensatz zu der einer reellen Zahl immer gegeben, denn zu jedem gegebenen Ortsvektor gibt es einen Ortsvektor, der im gleichen Verhältnis zum Einheitsvektor steht wie der gegebene Ortsvektor zu ihm.

Komplexe Zahlen unterscheiden sich nur dadurch von einem ebenen Koordinatensystem, dass gewisse mathematische Operationen anders definiert sind. Dass man zwei reelle Zahlenkomponenten als eine Zahl und eine der zwei Komponenten als imaginär bezeichnet, ist irreführend. Wenn man eine imaginäre Zeit einführt, ist das entweder so, wie wenn man das Gewicht eines Körpers durch eine negative Zahl ausdrückt, oder man propagiert eine 2-dimensionale Zeit. Dass sich von einer 3-dimensionalen Anschauungsform keine Zahlentripel abstrahieren lassen, deren Eigenschaften denen von reellen und komplexen Zahlen analog sind, ergibt sich als synthetisches Urteil apriori.

Dass Mathematik als formale Wissenschaft gilt, deren Anwendbarkeit auf die Realität mindestens fragwürdig ist, liegt daran, dass sie als formale Wissenschaft gelernt wird. Wenn man 7 mit 7 multipliziert, führt man keine abstrakten Gedankengänge durch, sondern das Resultat '49' wird assoziativ mit '7 × 7' verknüpft. Bei Multiplikation zweier mehrstelliger Zahlen werden die Zahlen nur als konkrete Zeichenfolgen betrachtet, aus denen nach formalen Regeln eine dritte Zeichenfolge erzeugt wird. So ist die Multiplikation viel einfacher auszuführen als durch abstraktes Denken, wo man von primären Begriffen ausgeht.

Mathematiker wenden viele Methoden sehr erfolgreich an, die sie zwar formal beherrschen, aber anschaulich nicht nachvollziehen können. Eine Verknüpfung mit der Anschauung ist, wenn überhaupt, oft nur bei Aufgabenstellung und Lösung gegeben, während die Schritte dazwischen nur formal ausgeführt werden. Es entstanden mathematische Theorien (z.B. nicht-euklidische Geometrien, transfinite Zahlen), wo eine Verknüpfung aller mathematischen Zeichen mit primären Begriffen (oder Sprachstrukturen) nicht mehr möglich ist, d.h. sekundäre Begriffe übernehmen explizit die Funktion von primären: Die mathematischen Zeichen stehen nur für sich selbst und bekommen erst durch ihr Vorkommen in Definitionen, Axiomen, Postulaten, Theoremen usw. eine Bedeutung.

Formale Logik und Mathematik haben gezeigt, dass man korrektes abstraktes Denken durch Manipulation konkreter Zeichen simulieren kann. Auch die künstliche Intelligenz basiert auf der Manipulation konkreter Zeichen. Die durch grosse Anfangserfolge in speziellen Bereichen geweckten Erwartungen an dieses Teilgebiet der Informatik haben sich nicht erfüllt. Das Wesentliche menschlicher Intelligenz ist die Fähigkeit zur Begriffsbildung und Denken mit primären abstrakten Begriffen. Und beides ist der künstlichen Intelligenz nicht zugänglich. Ein Gebiet lässt sich erst formalisieren, nachdem es gut erforscht und verstanden ist.

Aussagen wissenschaftlicher Theorien (oder Theoreme axiomatisch-formaler Theorien) können nur dann sinnvolle Erkenntnisse sein, wenn alle in ihnen vorkommenden Worte und Zeichen sinnvollen (primären) Begriffen oder Sprachstrukturen entsprechen. Begriffe sind nur dann sinnvoll, wenn ihre Bildung intersubjektiv nachvollziehbar aufgezeigt werden kann. Sinnvolle Begriffe setzen Anschauung bzw. Vorstellung voraus und sind ihrerseits Voraussetzung synthetischer Urteile apriori. Geometrische Begriffe wie 'Punkt', 'Gerade', 'Winkel' usw. ermöglichen erst geometrische Erkenntnisse. Diese sind ausnahmslos synthetische Urteile apriori. Es gibt Begriffe, deren Bildung so naheliegend ist, dass man sie fast schon als apriori gegeben ansehen könnte.

Moderne physikalische Theorien sind voll von Widersprüchen und sinnlosen Aussagen. Dass aus ihnen trotzdem sinnvolle Aussagen abgeleitet werden können, die empirischen Phänomenen entsprechen, beweist keineswegs die Richtigkeit der Theorien. Die Theorien werden von ihren Autoren im Hinblick auf schon bekannte oder richtig vermutete, empirisch prüfbare Phänomene entwickelt. Dass diese Phänomene sich dann aus den Theorien, zwar nicht immer sehr überzeugend, wieder ableiten lassen, ist wenig erstaunlich.

Physikalische Theorien sind Idealisierungen. Logisch (synthetisch apriori) sind sie entweder widerspruchsfrei oder widersprüchlich. Obwohl eine widersprüchliche Theorie irgendwo auch empirisch falsch ist, kann sie nützlich sein. Eine widerspruchsfreie Theorie, die empirischen Phänomenen widerspricht, ist, obwohl logisch richtig, empirisch falsch. Ob eine widerspruchsfreie Theorie aber exakt zutrifft, kann man nicht wissen. Nur die Genauigkeit, mit der sie mit den Phänomenen übereinstimmt, kann empirisch festgestellt werden.

Die moderne Wissenschaft geht von folgender Annahme aus: <Die Gesetze der Physik determinieren vollständig die Gesetze der Chemie und der Biologie. Chemische und biologische Systeme werden nur deshalb nicht physikalisch beschrieben, weil es ineffizient ist. Eine Affenhorde ist genauso Folge der physikalischen Grundgleichungen wie eine Planetenbahn Folge des Gravitationsgesetzes.> Es gibt aber keinen Beweis für diese Annahme. Aus den quantenmechanischen Grundgleichungen können nicht einmal alle Eigenschaften des Wasserstoffs, geschweige denn die der anderen Elemente oder gar der Moleküle abgeleitet werden.

Somit erklären heutige physikalische Theorien die Welt nicht besser als heilige Schriften: <An diese wie an jene kann man glauben oder nicht. Diese wie jene können sich neuen, ihnen widersprechenden Erkenntnissen immer anpassen und sind kaum widerlegbar. In diesen wie in jenen findet sich Vernünftiges neben Unsinnigem.> Eine wesentliche Eigenschaft der modernen Physik ist ihre Nicht-Widerlegbarkeit. Wenn ein experimentell gemessener Effekt nicht mit dem theoretisch geforderten übereinstimmt, bedeutet das nur, dass es neben dem theoretisch geforderten noch weitere Effekte geben muss und die Summe aller Effekte gemessen wurde.

Anstatt eine Theorie als widerlegt zu betrachten, werden neue Teilchen postuliert, um die jeweils auftretenden Diskrepanzen zwischen Theorie und Messergebnissen zu erklären. Das erste dieser Teilchen war das Neutrino. Trotz vieler Bemühungen konnte es ein Vierteljahrhundert im Experiment nicht bestätigt werden. Man postulierte, dass Neutrinos mit normaler Materie so schwach wechselwirken, dass die meisten sogar die grössten Sterne ungestört durchfliegen. Schliesslich wurden im Experiment erzeugbare Effekte als Wirkung der Neutrinos interpretiert. Später wurde bekannt, dass gemäss dieser Interpretation bei gewissen Experimenten die Effekte etwa dreimal häufiger auftreten sollten als sie auftreten. Eine neue Theorie besagt, dass Neutrinos zwischen drei Zuständen schwanken und nur in einem der drei Zustände registriert werden.

Physikalische Gesetze dienen zur Erklärung physikalischer Phänomene und werden mit Anwendung auf solche Phänomene entwickelt oder gelernt. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, die ganze für die Erklärung notwendige Information stecke in den Gesetzen. Nur ein Teil dieser Information steckt in den Gesetzen. Der andere Teil, oft sogar der weitaus grössere, steckt darin, wo und wann die Gesetze wie anzuwenden sind. Je allgemeiner die Gesetze sind, desto kleiner ist der Informationsanteil aus den Gesetzen selbst und desto wichtiger ist das Wissen über die richtige Anwendung.

Gerade die Relativitätstheorie ermöglicht es, physikalische Gesetze allgemeiner anzuwenden und mit experimentell gefundenen Daten in Einklang zu bringen. Sie rettete die Maxwellsche Theorie, in der in speziellen Bereichen gültige Gesetze unzulässig verallgemeinert werden, was dann zu sonderbaren Asymmetrien führt: In dieser Theorie können relativ zueinander ruhende elektrisch geladene Körper aufeinander magnetische Kräfte ausüben, in deren Folge sich der Gesamtimpuls ändert. Die Relativitätstheorie erlaubt es, physikalische Phänomene immer in dem Bezugssystem zu beschreiben, in dem am wenigsten offensichtliche Widersprüche auftreten. Zudem erschwert sie das Erkennen logischer Widersprüche ausserordentlich. Zusammenfassend kann man sagen, dass offensichtliche Widersprüche in der älteren Physik nur durch weniger offensichtliche Widersprüche in der heutigen Physik ersetzt wurden.


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