Argumente gegen den Reduktionismus

Viele Philosophen und Wissenschaftler der Vergangenheit staunten über das Lebendige und dessen Komplexität. Heute wissen wir, dass die Komplexität des Lebendigen noch viel grösser ist, als es sich frühere Philosophen je hätten träumen lassen. Lebewesen sind auf allen Grössenordnungen bis zur atomaren durchstrukturiert. Einfache Zellen übertreffen an Komplexität ganze Fabriken. Trotzdem sind viele Wissenschaftler der Meinung, dass thermische Zufallsbewegungen (bei Energieminimierung und Entropiemaximierung) zusammen mit den anderen heutigen physikalischen Gesetzen ausreichen, das Lebendige zu erklären.

Wie unmöglich es ist, dass thermische Zufallsbewegungen das Geschehen in einer Zelle bestimmen, würde ersichtlich, wenn man ein konkretes vergrössertes Modell der DNA-Helix mit einem Helix-Durchmesser von 50 cm schaffen würde, und Menschen die Funktionen der vielen an der Replikation beteiligten Enzyme übernehmen müssten. Die ganze menschliche DNA, die normalerweise in dicht gepackter Form vorliegt, wäre bei dieser Vergrösserung etwa 500 000 km lang. Das Modell würde auch die Unwahrscheinlichkeit aufzeigen, dass Transkriptionsfaktoren eine bestimmte DNA-Stelle finden, wenn es nur Zufallsbewegungen gäbe und das Erkennen der Stelle nur durch direkten Kontakt möglich wäre. Diese Unwahrscheinlichkeit lässt sich wegen der Grösse der Enzyme auch nicht hinter den Heisenbergschen Unschärferelationen verstecken.

Dass der Informationsfluss immer von DNA über RNA zum Protein führe und das Geschehen in Zellen somit durch die DNA determiniert sei, hat sich mehr und mehr als Trugschluss erwiesen. DNA- oder RNA-Nukleotide können ohne Vorlage Sequenzen bilden. RNA kann in DNA umgeschrieben werden. RNA-Stücke können als Enzyme tätig sein. Die DNA ist keineswegs ein unbelebter Informationsspeicher. Es gibt springende DNA-Stücke, die sich aus der DNA herauslösen und sich an anderen Stellen wieder einfügen. Die menschliche DNA besteht grösstenteils aus unterschiedlich langen Sequenzen, die in unzähligen Wiederholungen vorkommen, oder anderen Sequenzen, die nicht als Information dienen.

DNA-Mutationen treten nicht überall mit gleicher Häufigkeit auf. Sonst wäre die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Mutation bei lebenswichtigen Proteinen viel grösser als die einer Mutation, die z.B. ein Längerwerden des Halses bewirken sollte. Auch sind evolutionär ältere Sequenzen (z.B. Ubiquitin) weniger mutationsanfällig als jüngere. Aber vom kausal-reduktionistischen Standpunkt kann die Mutationswahrscheinlichkeit weder vom evolutionären Alter noch von den Auswirkungen der Mutation abhängen. Wenn man die unterschiedliche Mutationsanfälligkeit mit Korrekturenzymen erklärt, stellt sich die Frage, wie die Korrekturenzyme wissen können, welche Mutationen sie tolerieren dürfen und welche nicht.

Die Mechanismen, die dazu führen, dass ein Gen transkribiert wird, sind sehr komplex. Transkriptionsfaktoren, die sich weit vom Gen entfernt an die DNA anlagern, können die Transkription des Gens stark beeinflussen, was vom kausal-reduktionistischen Standpunkt kaum verständlich ist. Nicht einmal die Vermutung, die Bauanleitung der Proteine sei durch die DNA vollständig bestimmt, hat sich als richtig erwiesen. Der genetische Code umfasst 20 Aminosäuren. Neben diesen 20 Aminosäuren enthalten viele Proteine andere Aminosäuren und andere Komponenten (z.B. Metalle, prosthetische Gruppen, Zuckerreste), die nicht codiert sind. Es wurden verschiedene Ausnahmen vom genetischen Code gefunden, der ursprünglich als allgemeingültig angesehen wurde.

Gene von Pflanzen und Tieren enthalten oft nicht-codierende Einschübe. Diese Intronen müssen aus der RNA-Kopie der Gene herausgeschnitten werden. Die Information, welche Bereiche der Codierung dienen und welche herausgeschnitten werden müssen, ist nicht codiert. Manche Intronen schneiden sich sogar selbst heraus. Öfters werden noch vor der Translation RNA-Nukleotide verändert, gelöscht oder eingefügt (RNA-Editierung). Damit korrekte Proteine entstehen, überspringen Ribosomen auch manchmal RNA-Nukleotide, anstatt diese in entsprechende Aminosäuren zu übersetzen. Selbst aus fertigen Aminosäuresequenzen können noch Teile herausgeschnitten werden. All dies ist nicht codiert.

Viele Aminosäuresequenzen nehmen nach der Translation sehr zielstrebig eine stabile Form an. Biotechnologisch hergestellte zufällige Sequenzen falten sich aber nicht zu einem Protein. Die gängige Erklärung ist die, dass Proteine auf ihre Fähigkeit zu korrekter Faltung selektiert wurden. Aber wenn nur ein sehr kleiner Anteil der möglichen Sequenzen überhaupt eine stabile Form annimmt, steht für eine Selektion der Proteinfunktion nur dieser Anteil zur Verfügung und die Wahrscheinlichkeit, dass zufällige Mutationen die Stabilität zerstören, ist sehr gross. Zudem ist unwahrscheinlich, dass auf stabile Form selektierte Proteine zwangsläufig komplexe Funktionen 'katalysieren'. Andererseits gibt es miteinander verwandte Proteine ähnlicher Form und Funktion, bei denen sich die Aminosäuresequenzen weit voneinander entfernt haben. Auch gibt es Fälle, wo die völlig unterschiedlichen Aminosäuresequenzen, die unterschiedlichen Leserastern einer RNA-Sequenz entsprechen, korrekte Proteinteile ergeben.

Damit ein Enzymtyp in einer Zelle entstehen kann, müssen mehrere spezifische Aufgaben (z.B. Transkriptionsinitiierung) durchgeführt werden. Wenn für jede dieser Aufgaben ein eigener Enzymtyp notwendig wäre, würde jeder Enzymtyp mehrere andere Typen voraussetzen, was logisch unmöglich ist. Viele Enzyme müssen somit in der Lage sein, verschiedene Aufgaben auszuführen, was vom kausal-reduktionistischen Standpunkt kaum verständlich ist, da schon eine Aufgabe Verschiedenes voraussetzt (z.B. allosterische Veränderungen der Enzymform).

Neben der logischen Unmöglichkeit, das Verhalten lebender Organismen reduktionistisch zu erklären, gibt es die logische Unmöglichkeit, die Evolution von Lebewesen reduktionistisch zu erklären. Bei weitem nicht alle Tiere investieren ihre ganze Energie dazu, die eigenen Gene möglichst effizient zu verbreiten. Die darwinistische Erklärung der verschwenderischen Federpracht des Pfaus sieht so aus: <Kontinuierlich treten zufällige Mutationen auf, die die Federpracht vergrössern oder verkleinern. Die Selektion entsteht dadurch, dass Weibchen Männchen mit auffälliger Federpracht bevorzugen.> Diese Erklärung basiert auf der Prämisse, dass Weibchen apriori Männchen mit auffälliger Federpracht bevorzugen. Aber kausal-reduktionistisch betrachtet setzt auch diese Bevorzugung, die ein komplexes Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster darstellt, irgendwelche Mutationen voraus. Und diese Mutationen können durch keinen Vorteil mehr erklärt werden, der zu ihrer Verbreitung in einer Population führen könnte.

Viele Tiere machen einen Winterschlaf. Der Winterschlaf ist ein komplexes Phänomen aus vielen Komponenten, von Zellstoffwechselvorgängen angefangen bis hin zu verschiedenen Verhaltensmustern der Tiere. Weil diese Komponenten nur dadurch, dass sie demselben Zweck (dem Winterschlaf) dienen, miteinander verknüpft sind, kann man ausschliessen, dass Mutationen, die eine Komponente des Winterschlafs ermöglichen, gleichzeitig auch die anderen ermöglichen. DNA-Mutationen, die die Tiere veranlassen, zur richtigen Zeit ein Winterlager zu erstellen, müssen eine gewisse Komplexität haben. Selbst bei der völlig unrealistischen Annahme, dass vier Punktmutationen im Genom für dieses Verhalten ausreichen, ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten gerade dieser Mutationen verschwindend gering. Aber wenn schon die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Komponente des Winterschlafs verschwindend gering ist, ist das Auftreten aller notwendigen Komponenten praktisch unmöglich. Aber trotzdem hat sich der Winterschlaf bei verschiedenen Tierarten unabhängig voneinander entwickelt.

Lebewesen könnten sich nie so schnell neuen Bedingungen (z.B. Klimaveränderungen) anpassen, wenn das neue angepasste Verhalten zuerst in Form dominanter Mutationen auftreten müsste. Die Fähigkeit von Menschen, Milchzucker auch im Erwachsenenalter zu verwerten, hat sich parallel mit der Milchtierhaltung entwickelt und ausgebreitet. Vom kausal-reduktionistischen Standpunkt ist dies äusserst unwahrscheinlich, denn der Vorteil, Milch trinken zu können, reicht sicher nicht aus, um die grosse Verbreitung dieser Fähigkeit in wenigen tausend Jahren durch Selektion zu erklären.


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