Der Abhängigkeitsraum

Der erste Effekt entspricht qualitativ dem Mach'schen Prinzip. Dieses sagt aus, dass die auf einen Körper wirkenden Trägheitskräfte ihre Ursache in der kollektiven Gravitationswirkung der fernen Massen haben.

Um diese Wirkung zu veranschaulichen, stelle man sich folgende Situation vor: Ein einsamer Galaxienhaufen besteht aus sechs Galaxien, die alle die gleiche Masse haben und zusammen die Form eines regulären Sechsecks bilden. Damit das System stabil bleibt und nicht aufgrund der Gravitationsbeschleunigung in sich zusammenfällt, muss es selbstverständlich rotieren. Ueber die Rotationsgeschwindigkeit ist nur soviel zu sagen, dass sie grösser ist, als man bei alleiniger Berücksichtigung der Gravitationswirkung annehmen müsste.

Um diesen gegen den Uhrzeigersinn rotierenden Komplex kreist in einigem Abstand eine Mini-Galaxie m, deren Wirkung auf die sechs Galaxien vernachlässigbar ist. Will man nun die mittlere Rotationsgeschwindigkeit dieser Satellitengalaxie bestimmen, so muss man zuerst den Abhängigkeitsraum bestimmen. Dieser soll praktisch zur Gänze von den sechs Galaxien bestimmt werden.

               5     6
 
            4     z     1     m
 
               3     2

Der Abhängigkeitsraum von m wird also zu diesem Zeitpunkt am meisten von Galaxie 1 und am wenigsten von 4 beeinflusst. Der Abstand der Galaxien zum Zentrum z und der Abstand der Mini-Galaxie m von Galaxie 1 beträgt zu diesem Zeitpunkt jeweils eine Einheit. In der folgenden Tabelle sind die für den Abhängigkeitsraum von m relevanten Werte eingetragen. Als Anteil einer Galaxie kann man den Kehrwert des Abstandes nehmen. Die Geschwindigkeitsvektoren lassen sich in eine zur momentanen Bewegungsrichtung von m parallele und eine dazu senkrechte Komponente zerlegen. Da sich die senkrechten Komponenten sowohl von 2 und 6 als auch von 3 und 5 gegenseitig aufheben, kann man sie vernachlässigen. Als Geschwindigkeitseinheit dient die Rotationsgeschwindigkeit der grossen Galaxien.

  Galaxie  Abstand   Anteil    Geschwindigkeit in      Wirkungsanteil
                  (1/Abstand) Bewegungsricht. von m  (Anteil × Geschw.)
  ---------------------------------------------------------------------
    1      1         1.00       +1    (cos 0°)           +1
    2      √3        0.58       +0.5  (cos 60°)          +0.29
    3      √7        0.38       -0.5  (cos 120°)         -0.19
    4      3         0.33       -1    (cos 180°)         -0.33
    5      √7        0.58       -0.5  (cos 240°)         -0.19
    6      √3        0.38       +0.5  (cos 300°)         +0.29
                   --------                            ---------
                     3.25                                +0.87

Teilt man die Summe der Wirkungsanteile durch die Summe der Anteile, so erhält man als Geschwindigkeit des Abhängigkeitsraumes am Ort von m 27 Prozent (0.87 / 3.25) der Umdrehungsgeschwindigkeit der grossen Galaxien. Hätte die kleine Galaxie exakt diese Geschwindigkeit, so wäre ihre Beschleunigung zum Zentrum hin maximal, da keine Fliehbeschleunigung auftritt. Kreist m in Rotationsrichtung des Komplexes, so addiert sich diese Geschwindigkeit zu derjenigen, die benötigt wird, um die Gravitationsbeschleunigung der sechs Galaxien auszugleichen. Kreist m jedoch in entgegengesetzte Richtung, so ergibt sich die resultierende Geschwindigkeit aus der Differenz. Man sieht also, dass der Abhängigkeitsraum (absolut) rotieren kann.

Es mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, einen Abhängigkeitsraum einzuführen, der sich an den umgebenden Massenpunkten orientiert, und zwar umgekehrt proportional zu den jeweiligen Abständen. Da auch das Newton'sche Gravitationspotential umgekehrt proportional zum Abstand ist, drängt sich der Gedanke einer Beziehung auf.

Betrachten wir den Abhängigkeitsraum auf der Erdoberfläche. Als eine Annäherung denken wir uns die gesamte Erdmasse in ihrem Schwerpunkt vereinigt und berücksichtigen weder Mond noch Planeten. Da die Masse der Sonne 333 000 mal die der Erde beträgt und der Abstand zur Sonne 23 500 mal so gross wie der zum Erdmittelpunkt ist, so folgt daraus, dass der Abhängigkeitsraum auf der Erdoberfläche etwa 14 mal stärker von der Sonne als von der Erde beeinflusst wird (und noch weit stärker von der ganzen Milchstrasse und dem restlichen Universum).

Jeder Körper auf der Erde hat auch 14 mal mehr an potentieller Energie gegenüber der Sonne als gegenüber der Erde verloren. Hierfür kann man den Begriff der gravitativen Abhängigkeit einführen. Diese ist das Integral über die Gravitationsbeschleunigung:

INTEGRAL Abstand, ∞, [Masse ∙ Gravitationskonstante /x2] dx  

oder bei kugelförmigen Himmelskörpern:

INTEGRAL Abstand, ∞, [Oberflächenbeschleunigung ∙ Radius2 /x2] dx  

Nach der Integration erhält man jeweils:

GravAbh(Abstand) = Masse ∙ Gravitationskonstante / Abstand

GravAbh(Abstand) = Oberflächenbeschleunigung ∙ Radius2 / Abstand

Die gravitative Abhängigkeit steht also auch in direktem Zusammenhang mit der Entweichgeschwindigkeit:

GravAbh = Entweichgeschwindigkeit2 / 2

Die gravitative Abhängigkeit eines Gegenstandes von der Erde auf der Erdoberfläche berechnet sich folgendermassen:

GravAbh.von.Erde = 0.00981 km/s2 ∙ (6380 km)2 / 6380 km = 63 km2/s2

Diejenige der Erde von der Sonne:

GravAbh.von.Sonne = 0.274 km/s2 ∙ (696000 km)2 / 149000000 km = 888 km2/s2

Die Entweichgeschwindigkeit aus der Milchstrasse vom Ort unseres Sonnensystems wird mit etwa 350 km/s angegeben. Dieser Wert kann jedoch keineswegs als gesichert angesehen werden. Die gravitative Abhängigkeit des Sonnensystems von der Milchstrasse wäre demnach noch etwa 70 mal grösser:

GravAbh.von.Milchstrasse = (350 km)2 / 2 ≈ 60000 km2/s2

Die gravitative Abhängigkeit vom restlichen Universum ist noch schwieriger zu bestimmen, da Aussagen über Entfernung und Masse von entfernten Galaxien und Galaxienhaufen immer noch mit relativ grossen Unsicherheiten behaftet sind. Natürlich stellt sich hier in sehr krasser Weise das dem Olbers'schen Paradox analoge Problem. Diese Frage wird zu einem späteren Zeitpunkt behandelt.

Durch himmelsmechanische Berechnungen in unserem Planetensystem kann man zu Aussagen über die gravitative Abhängigkeit unseres Planetensystems vom restlichen Universum (inkl. Milchstrasse) gelangen. Das Vorgehen ist die Methode der schrittweisen Verfeinerung, ausgehend von den minimalen Abweichungen der Planetenbahnkurven von denjenigen, die von der klassischen Himmelsmechanik berechnet werden.

Zu den klassischen Störungen der Planetenbahnen kommen noch diejenigen hinzu, die durch die "Störung des Abhängigkeitsraumes" durch die Rotation der Sonne und das Wandern der Planeten verursacht werden. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie solche Störungen berechnet werden können. Es wird dabei von einer gravitativen Abhängigkeit von 300 000 km2/s2 unseres Planetensystems von der Milchstrasse und dem übrigen Universum ausgegangen.

Die Sonne rotiert ungleichförmig mit einer Umlaufzeit, die am Äquator 25 Tage beträgt und bis zu den Polen auf 30 Tage ansteigt. Aussagen über die Rotation im Inneren sind auf direktem Wege kaum möglich. Um die Wirkung auf den Abhängigkeitsraum der Planeten zu berechnen, kann man die Sonne in möglichst viele Ringe zerlegen, wobei von jedem Ring Radius, Masse und Rotationsgeschwindigkeit bekannt sein müssen. Weil der Radius der Sonne im Verhältnis zum Abstand der Planeten sehr klein ist, ist die Wirkung von gleich massenreichen Ringen proportional zum Produkt von Radius und Geschwindigkeit. So kann man die Sonne durch das Modell eines Ringes ersetzen. Die Sonne besitzt einen Radius von 696 000 km und rotiert am Äquator mit einer Geschwindigkeit von etwa 3 km/s. Da die Dichte gegen Sonnenmittelpunkt sehr stark anwächst, muss der Radius des Ringes um einiges kleiner gewählt werden. Nehmen wir zum Beispiel 90 000 km. Weniger als 3 Prozent des Sonnenvolumens befinden sich dann innerhalb des Zylinders mit gleichem Radius. Nimmt man eine Rotationsgeschwindigkeit dieses Ringes von 600 m/s an und berücksichtigt weder Exzentrizität der Planetenbahnen noch Neigungen gegen die Ekliptik, so ergeben sich folgende Werte für die durch die Sonnenrotation verursachte Perihelverschiebung, in Bogensekunden pro Jahrhundert (Anhang 1):

  Merkur:   39.6
  Venus:     6.1
  Erde:      2.3
  Mars:      0.7
  Jupiter:   0.0

Aber auch die Planeten beeinflussen gegenseitig ihre Abhängigkeitsräume. So ist der Einfluss des Jupiter auf die Erde zur Zeit der Opposition am grössten und während der Konjunktion am kleinsten. Im ersten Fall bewegt er sich in Umlaufrichtung der Erde, während er sich im zweiten in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Es folgt daraus, dass der Jupiter im Mittel eine leichte Rotation des Abhängigkeitsraumes der Erde in Umlaufrichtung bewirkt.

Unter den gleichen Annahmen wie oben (eine gravitative Abhängigkeit des Planetensystems vom restlichen Universum von 300 000 km2/s2) ergeben sich zusätzlich noch folgende Perihelverschiebungen (Anhang 2):

            Merkur Venus   Erde   Mars Jupiter Saturn Total  Perihel
             mm/s   mm/s   mm/s   mm/s   mm/s   mm/s   mm/s  Sekunden
  -------------------------------------------------------------------
  Merkur:          0.105  0.054  0.002  0.264  0.017   0.44    5.0
  Venus:    0.009         0.124  0.004  0.497  0.032   0.67    4.0
  Erde:     0.005  0.119         0.006  0.693  0.045   0.87    3.8
  Mars:     0.002  0.043  0.070         1.076  0.069   1.26    3.6
  Jupiter:  0.000  0.003  0.005  0.001         0.264   0.27    0.2
  Saturn:   0.000  0.001  0.001  0.000  1.204          1.21    0.6

Der Jupiter erzeugt demnach eine Drehung der Erdumlaufbahn mit einer mittleren Geschwindigkeit von 0.693 mm/s.

Die Rotation des Abhängigkeitsraumes erklärt so, warum Galaxien vor allem in den Aussenbereichen schneller rotieren, als sie es gemäss der klassischen Physik dürften. Sie könnte auch zu einer einfacheren Theorie der Spiralstruktur der Galaxien führen. Die Feststellung, dass nur grosse Galaxien eine Spiralstruktur haben, lässt sich dahin deuten, dass nur sie die notwendige Masse besitzen, damit ihre eigene gravitative Gebundenheit (im Verhältnis zur gravitativen Abhängigkeit vom übrigen Weltall) sich genügend stark auswirkt, um die entsprechenden Abweichungen vor den Newton'schen Gesetzen hervorzurufen.


© No rights reserved, 1987 | Einstieg: Wissenschaftskritik