Erkenntnistheorie mit Schwerpunkt Immanuel Kant

Von Wolfgang G. Gasser


Originale der Diskussionen auffindbar via groups.google.com  


Kant & (nicht-euklidische) Geometrie

Geometrische Probleme der Allgemeinen Relativitätstheorie

Kant & Atheismus & Ontologischer Gottesbeweis

Verteidigung von Kants "Ding an sich"


Kant & Geometrie (war: Der Einfluss von Kant auf Einstein) – 09.04.2001

Hendrik van Hees:

>   drno.incognito:

>> Wenn ich mich recht erinnere, hat Kant nicht nur ein "Primat" der
>>
euklidischen Geometrie "erteilt", sondern behauptet, dass der
>>
euklidische dreidimensionale Raum denknotwendig wäre (a priori).
>
> Richtig. Wie gesagt, die mathematische Bildung des Herrn Kant
> ließ viel zu wünschen übrig. ...


Kant hat im Wesentlichen Recht, denn "Raumkrümmung setzt die
Vorstellung eines ungekrümmten Raums voraus"
(siehe unten).

Immanuel Kant lebte von 1724 bis 1804 und damit um Jahrzehnte
vor der Erfindung der sogenannten nicht-euklidischen Geometrien.
Für seine Zeit liess weder seine mathematische Allgemeinbildung
viel zu wünschen übrig, noch war sein Schreibstil so abwegig
wie er uns heute erscheint.

Die Kantische (anschauliche) Sicht der Geometrie war gegenüber
der axiomatisch-formalen ein Fortschritt, der von denen,
die später die gleichberechtigte Existenz nicht-euklidischer
Geometrien behaupteten, einfach nicht verdaut worden war.

Siehe auch:
Kant & couterrevolution & Einstein

Dass nichteuklidische Geometrien nur axiomatisch-formale
Systeme, nicht aber echte Geometrien (d.h. widerspruchsfreie
Beschreibungen eines mehr-dimensionalen Kontinuums) sind,
zeigt sich vor allem am Fehlen konkreter quantitativer Aussagen.

Ein simples Beispiel: Wie verhält sich die Fläche des Kreises
mit Radius r in Abhängigkeit von r bei einer 2-dimensionalen
Geometrie mit konstanter "negativer Krümmung" von 1 Meter?
(Beim analogen "positiven" Fall nehmen wir ganz einfach die
Vorstellung der 2D-Oberfläche einer idealen 3D-Kugel mit 1 m
Durchmesser zur Hilfe.)

Hier ein paar Auszüge aus meinem Text Physik und Erkenntnis-
theorie
:

  Geometrie ist die Wissenschaft des Raums. Im 20. Jahrhundert
  hat sich der axiomatisch-formale Standpunkt durchgesetzt:

    Eine Geometrie mit Parallelenaxiom ist nur ein Spezialfall
    allgemeinerer Geometrien und nicht durch eine denknotwendige
    Anschauungsform apriori gegeben, wie Kant meinte. Gekrümmte
    Räume nichteuklidscher Geometrien sind fundamentaler als der
    ungekrümmte Anschauungsraum, denn letzterer ist nur ein
    Spezialfall der ersteren mit allgemeiner Krümmung Null.

  Aber nach ähnlicher Logik ist ein Orchester fundamentaler als
  ein Musiker, denn der Musiker kann als Spezialfall eines
  Orchesters, nämlich des kleinstmöglichen, angesehen werden.

  Raumkrümmung setzt die Vorstellung eines ungekrümmten

  Raums voraus. Die Krümmung wird durch die Abweichung vom
  ungekrümmten Raum ausgedrückt. Die Geometrie einer
  Kugeloberfläche gilt als gleichberechtigte 2-dimensionale
  Geometrie mit konstanter positiver Krümmung, wobei die
  Krümmung proportional zum Verhältnis einer Längeneinheit zur
  Kugelgrösse ist. Aber so wie sich Nicht-Rotation gegenüber
  Rotation dadurch auszeichnet, dass sie nicht einer willkürlichen
  Rotationsachse bedarf, so zeichnen sich die normalen n-
  dimensionalen Geometrien gegenüber den nichteuklidschen
  mindestens dadurch aus, dass sie nicht einer willkürlichen
  Längeneinheit bedürfen. Aber nur bei Unabhängigkeit von einer
  Längeneinheit lassen sich im n-dimensionalen Raum Figuren bei
  gleichbleibender Form beliebig vergrössern und verkleinern.

  Das Parallelenaxiom sagt etwas über Geraden aus. Aber auf einer
  Kugeloberfläche gibt es keine Geraden. Die 2-dimensionale
  Geometrie mit konstanter positiver Krümmung ist nicht mehr als
  die Oberflächengeometrie eines 3-dimensionalen Körpers. Es
  lassen sich aber beliebige Krümmungen postulieren und bei z.B.
  konstanter negativer Krümmung kann es sich nicht um eine
  Oberflächengeometrie eines Körpers einer endlich-dimensionalen
  normalen Geometrie handeln. Daraus wurde geschlossen, dass die
  nichteuklidschen Geometrien allgemeiner und fundamentaler
  seien als die normalen. Aber postulieren kann man viel, z.B. Zahlen,
  von denen jede grösser als alle anderen ist.

  Dass das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser eines Kreises
  nicht exakt 22/7 beträgt, lässt sich empirisch zeigen. Dass
  jedoch dieses Verhältnis bei allen idealen Kreisen exakt Pi
  beträgt oder dass sich die Seitenhalbierenden eines Dreiecks
  in exakt einem Punkt schneiden, lässt sich empirisch nicht
  zeigen. Nach dem axiomatisch-formalen Standpunkt sind solche
  Aussagen weder richtig noch falsch unabhängig von Postulaten
  einer Geometrie. Das erweckt den Eindruck, man könnte die
  Postulate beliebig wählen, z.B. so, dass das Verhältnis von
  Umfang zu Durchmesser eines Kreises exakt 3 ergibt.
  ...
  Der 3-dimensionale Raum der normalen Geometrie ist nicht Folge
  sondern Ursache der willkürlichen Definitionen, Axiome und
  Postulate von Euklid oder späterer Mathematiker. Kant hielt
  diesen Raum, wie auch die Zeit, für eine apriori gegebene
  denknotwendige Anschauungsform. Denn eine Erkenntnis wie die,
  dass sich die Seitenhalbierenden eines Dreiecks in exakt einem
  Punkt schneiden, ist in unserer Anschauung bzw. Vorstellung
  gegeben und ist unabhängig von einer ihr entsprechenden
  sprachlichen Formulierung. Beim axiomatisch-formalen Standpunkt
  geht es nur darum, so eine Formulierung aus anderen
  Formulierungen (Definitionen, Axiomen, Postulaten) nach
  formalen Regeln ohne Bezug zu einer subjektiven Anschauung
  abzuleiten. ...

  Da Kant die Anschauungsform des Raums mit dem physikalischen
  Raum gleichsetzte und somit die Begrenzung auf drei Dimensionen
  als apriori gegeben ansah, wurde sein Standpunkt durch die
  Entwicklung von Mathematik und Physik widerlegt. Wie sich das
  Volumen der 3-dimensionalen Oberfläche einer 4-dimensionalen
  Kugel berechnet oder wieviele Ecken, Kanten, Quadrate und
  Würfel einen 4-dimensionalen Würfel begrenzen, ist genauso
  apriori gegeben wie bei den analogen Fragen der 3-dimensionalen
  Geometrie. Die Antworten sind sogar elegante Beispiele dessen,
  was Kant als 'synthetische Urteile apriori' bezeichnete.
  ...
  Kant führte diese Unterscheidungen [in analytisch, synthetisch,
  apriori, aposteriori] u.a. im Bestreben ein, die Anwendbarkeit
  der geometrischen Methode auf metaphysische Probleme zu
  klären. Er kam zu folgendem Schluss:

    In der Geometrie kommt man deshalb durch Denken alleine
    zu Erkenntnissen, die über die Analyse von Begriffen
    hinausgehen, weil es neben den Begriffen auch die
    Anschauungsform Raum gibt. Wenn so eine Anschauungsform
    fehlt, führt die geometrische Methode nicht zu sinnvollen
    Erkenntnissen.

  In dieser Hinsicht müssen verschiedene mathematische Theorien
  und die moderne theoretische Physik als Rückfall in unkritische
  Metaphysik und willkürliche Spekulation bezeichnet werden.


- - -
Eine Satire zu nichteuklidischen Geometrien und ART: Die Allgemeine Umfeldtheorie

 


Kant & Geometrie (war: Der Einfluss von Kant auf Einstein) – 10.04.2001


drno.incognito:

> Würden wir die Effekte der Raumkrümmung im Bereich von
> Metern beobachten können, müssten wir uns keinen
> "ungekrümmten" Raum vorstellen. Die Krümmung erschiene
> uns ganz natürlich.


Aber trotzdem würden wir die Krümmung als Abweichung von der
idealen euklidischen Geometrie ausdrücken und die Zahl Pi
hätte nach wie vor die Bedeutung des Verhältnisses von Umfang
zu Durchmesser eines idealen Kreises.

Auch könnten wir feststellen, ob der Raum positiv oder negativ
gekrümmt ist. Das ist aber nur möglich, weil sich die flache
Geometrie apriori gegenüber gekrümmten auszeichnet. Die flache
Geometrie ist auch immer als Grenzfall im Kleinen gültig,
etwa so wie die Verzerrungen bei Landkarten umso kleiner sind,
je kleiner die darauf gezeichneten Gebiete im Verhältnis zum
irdischen Krümmungsradius.

Das heisst: Ideale räumliche Anschauungsformen im Sinne Kants
sind nicht nur das Fundament der flachen Geometrien, sondern
auch der gekrümmten (sofern sie mehr sind als inhaltslose
axiomatisch-formale Systeme).

Die Annahme, dass der Abstand zwischen Parallelen überall
konstant ist, ist die einzige nicht-willkürliche, und nur das
Nicht-Willkürliche kann als Fundament unseres Denkens dienen.

>                                                           Es ist auch nicht so, dass

> jeder gekrümmte Raum einen ungekrümmten "Trägerraum"
> braucht, in den er gekrümmt ist. ...


Das ist genau der entscheidende Punkt. Wenn flache Trägerräume
höherer Dimensionen für gekrümmte Räume aufgegeben werden,
verlässt man die Vernunft und begibt sich auf das Gebiet
willkürlicher Spekulation.

> Killfile updated.

Ignorieren und Verdrängen was man nicht wissen will, waren
immer schon die einfachsten Methoden, den eigenen Glauben vor
Widerlegung zu schützen.


Kant & Geometrie (war: Der Einfluss von Kant auf Einstein) – 12.04.2001

Boudewijn Moonen:

> Es war ja gerade die tiefe Einsicht von Gauss und Riemann, dass
> Krümmung eine intrinsische Eigenschaft des Raumes sein kann.


Gauss, Riemann und/oder andere definierten ganz einfach
Krümmung als intrinsische Eigenschaft von Räumen, und zwar
immer noch in der axiomatisch-formalen Tradition Euklids,
obwohl diese inzwischen mindestens von Kant überwunden
worden war.

Die Erkenntnis, dass Raum nicht auf drei Dimensionen beschränkt
sein muss und dass gekrümmte dreidimensionale Oberflächenräume
denkbar sind, war nicht nur tief sondern auch revolutionär.
Der Glaube jedoch, beliebige Krümmungen seien als intrinsische
Eigenschaften von Räumen möglich, konnte sich nur deshalb
durchsetzen, weil der Kantsche Fortschritt nicht verstanden
worden war.

Beliebige Krümmungen als rein intrinsische Eigenschaften führen
zu Widersprüchen, was schon daran zu erkennen ist, dass kaum
quantitativen Aussagen z.B. über Oberflächen, Volumen usw.
gemacht werden (können), wie das von mir erwähnte Beispiel mit
konstanter negativer Krümmung klar zeigt.

Genauso, wie so oft in der allgemeinen Relativitätstheorie,
ist man dann gezwungen, simple Konzepte einfach zu verbieten
oder so zu verkomplizieren, dass die Widersprüche nicht mehr
erkannt werden können.

Ein schönes Beispiel, wie man sich bei der Verteidigung von
solchen logischen Undingen wie nicht-euklidischen Geometrien
in ein Netz von Widersprüchen verstrickt, wurde von Wolfgang
Thumser
geliefert. Er schreibt im Zusammenhang mit dem
Kreisumfang in einer konstant negativ gekrümmten Ebene:

 ' Zunächst ist zu klären, was in gekrümmten Räumen unter
 ' "Kreisen" zu verstehen ist. Naheliegend ist es, darunter
 ' all die Punkte des zwei-dimensionalen Raumes zu verstehen,
 ' deren kürzester (im geodätischen Sinne) Abstand r von
 ' einem vorgegebenen Punkt des Raumes konstant ist.
 '
 ' Mit dieser Definition hätten die "Kreise" in Räumen
 ' konstanter negativer Krümmung - im Gegensatz zu positiv
 ' gekrümmten Räumen - im einbettenden euklidischen Raum
 ' keine Kreisform mehr, ihre Mittelpunkte wären im
 ' gekrümmten Raum teilweise verstarrt und liessen sich dort
 ' nicht frei bewegen und hätten in Abhängigkeit von ihrer
 ' Lage in diesem Raum bei gleichem Radius unterschiedliche
 ' Form und unterschiedlichen Flächeninhalt.
 ' Potentielle Flächenwesen kämen durch Betrachtung dieser
 ' Objekte (selbst im kleinen ist alles verstarrt und
 ' abhängig vom jeweiligen Raumpunkt) niemals auf eine
 ' vernünftige Definition von Pi.


Eine vernünftige Definition von Pi ist trotzdem möglich,
da das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser immer gegen Pi
geht, wenn der Durchmesser gegen Null geht. Zudem haben z.B.
wir eine vernünftige Definition von Pi, obwohl die ART ein
negativ gekrümmtes Universum nicht ausschliesst.

Auch die Behauptung, Kreise (Kugeln) einer konstant negativ
gekrümmten Ebene (Raum) "liessen sich dort nicht frei bewegen
und hätten in Abhängigkeit von ihrer Lage in diesem Raum bei
gleichem Radius unterschiedliche Form und unterschiedlichen
Flächeninhalt
" ist offensichtlich unhaltbar.

Im Gegensatz zur üblichen Veranschaulichung (in Form eines
Sattels) herrscht in konstant negativ gekrümmten (genauso
wie in konstant positiven und flachen) Geometrien Homogenität
und Isotropie. Wenn aber alle Punkte des Raums als äquivalent
definiert sind, müssen auch die Kreise um die entsprechenden
Punkte äquivalent sein, da man ansonsten die Punkte anhand
ihrer Kreise unterscheiden könnte.

 


Kant & Geometrie (Der Einfluss von Kant auf Einstein) – 14.04.2001

Du glaubst, meine Aussagen seien Unsinn, nur weil sie nicht
mit dem übereinstimmen, was du gelernt und gelesen hast.
Die Möglichkeit, dass ich zu einem besseren Verständnis
der Grundlagen unseres Denkens gekommen bin als diejenigen,
die für dein Weltbild (d.h. für deine Begriffe und deren
assoziative Verknüpfungen) in dieser Sache verantwortlich
sind, solltest du nicht von vornherein ausschliessen.

Ein wesentlicher Ausgangspunkt für Kant war, dass die
Keplerschen Gesetze SPEZIALFÄLLE der Newtonschen Theorie
darstellen. Diese Erkenntnis ist von empirischen Fakten
unabhängig und wird wie die klassischen Erkenntnisse der
Geometrie von Kant als ein synthetisches Urteil apriori
bezeichnet.

Da zum Verständnis dieser SPEZIALFALL-BEZIEHUNG neben
Geometrie auch Zeit, Geschwindigkeit, usw. benötigt werden,
kann diese offensichtlich allgemeingültige BEZIEHUNG eben
nicht mit den euklidischen Axiomen (alleine) erklärt werden.
Als Fundament jedoch verlangt SIE einen 3-dimensionalen
flachen Raum und eine 1-dimensionale Zeit. Durch Bildung
vernünftiger Begriffe (wie z.B. Ort und Beschleunigung)
werden dann allgemeingültige synthetische Erkenntnisse auf
diesem Fundament möglich.

Zur Zeit Kants bezeichnete "Raum" nicht mehr als den
3-dimensionalen Raum mit dem oder in dem wir die Welt
wahrnehmen. Gekrümmte Ebenen wie Kugeloberflächen galten
offensichtlich nicht als Räume.

Gekrümmte zwei-dimensionale Geometrien widerlegen Kant
also nicht. Für Flächen können wir aber nicht beliebige
(intrinsische) Krümmungen postulieren, sondern nur die
Teilmenge von gekrümmten Flächen ist möglich, die sich im
3-dimensionalen Raum darstellen lassen.

Wenn wir die Beschränkung auf drei Dimensionen fallen lassen,
sind auch gekrümmte 3-dimensionale Räume denkbar. Trotzdem
können wir dann in der Tradition Kants nicht beliebige
Krümmungen postulieren, da Krümmung eben nicht eine rein
intrinsische (d.h. von höher-dimensionalen Trägerräumen
unabhängige) Eigenschaft sein kann.

Dass sich auch auf einem inkonsistenten Fundament die
tollsten Konstruktionen mit haufenweise quantitativen
Theoremen errichten lassen, ist offensichtlich.

Ich halte es aber für eine schwache Argumentationsweise,
grundlegende Einwände gegen das Fundament mit dem Hinweis
auf die (scheinbare) Grandiosität des darauf Errichteten
abzublocken. (Noch schwächer ist, einfach das Wort "Unsinn"
zu jammern.)

Boudewijn Moonen:

>> Gauss, Riemann und/oder andere definierten ganz einfach
>> Krümmung als intrinsische Eigenschaft von Räumen

Vielleicht etwas missverständlich: Ich meine, sie führten
einen Krümmungsbegriff ein, der nicht von höher-dimensionalen
(flachen) Trägerräumen abhängt.

>                                                              Es ist keineswegs so, dass
> Gauss die Krümmung als intrinsische Eigenschaft definierte,
> sondern so, dass er das zunächst auf anschauliche-geometrischer
> Weise motivierte extrinsisch definierte Krümmungsmass für
> Flächen als intrinsisch, genauer nur als von der Flächenmetrik
> abhängig, erkannte.


Was heisst hier erkannte? Die intrinsische Krümmung führt
notwendigerweise zu einem Informationsverlust gegenüber
der extrinsischen. Die Frage, ob das Verzichten auf die
zusätzliche Information, die in der extrinsischen Krümmung
liegt, nicht irgendwo zu Widersprüchen führt, ist alles
andere evident.

Auch könnte Gauss bei den nicht-euklidischen Geometrien
eine ähnliche Rolle gespielt haben, wie Hilbert bei der
allgemeinen Relativitätstheorie. Das "Faktum", dass Hilbert
un/abhängig von und schon vor Einstein die Gleichungen
der ART gefunden hat, wurde ja inzwischen von der
Wissenschaftsgeschichte widerlegt. Er hat seine Gleichungen
zwar vor Einstein eingereicht, bis zur Veröffentlichung
diese aber durch die schneller veröffentlichten Gleichungen
von Einstein ersetzt. (Hab ich vor ein paar Jahren in der
NZZ mit Referenz auf Nature oder Science gelesen.)

Die wechselseitige Bestätigung von Einstein und Hilbert
war ein sehr starkes Argument (vor allem auch für Einstein),
dass die Gleichungen (und damit die Prämissen der Theorie)
richtig sein dürften.

Wenn aber Hilbert nur ähnliche Gleichungen gefunden hat,
zeigt das, dass die Willkür beim Aufstellen solcher
Gleichungen nicht zu unterschätzen ist, was auch Einsteins
Version eher schwächt als stärkt.

>                    Damit hat er, zusammen mit Riemann, kurz und
> knapp gesagt, für die Mathematik, und ich denke auch für die
> Physik, den kantschen Raumbegriff erledigt.

Nicht den wesentlichsten Aspekt des Kant'schen Raumbegriffs,
der dazu führt, dass Krümmung immer einen ungekrümmten höher-
dimensionalen "Raum" als reine Anschauung voraussetzt, und
dass wir ohne räumliche Anschauungsformen eben nicht sinnvoll
Geometrie oder Physik betreiben können.

> Und zu Riemann. Auch hier ist völlig offensichtlich, dass Du
> von seiner bahnbrechenden Habilitationsschrift "Über die
> Hypothesen, welcher der Geometrie zugrunde liegen" nicht eine
> einzige Zeile kennst.

Ich habe diese "bahnbrechende Habilitationsschrift" schon vor
mehreren Jahren gelesen (zwar in italienischer Übersetzung).
Sie hat mich aber nicht sonderlich beeindruckt, und beim
Wiederlesen zeigt sich mir ganz klar, dass Riemann absolut
keine Ahnung vom Kant'schen Fortschritt in der Geometrie-
Problematik hatte. Als Beispiel hier der Anfang der Schrift:

  "Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des
  Raumes, als die ersten Grundbegriffe für Konstruktionen im
  Raume als etwas Gegebenes voraus. Sie gibt von ihnen nur
  Nominaldefinitionen, während die wesentlichen Bestimmungen
  in Form von Axiomen auftreten. Das Verhältnis dieser
  Voraussetzungen bleibt dabei im Dunkeln; man sieht weder
  ein, ob und inwieweit ihre Verbindung notwendig, noch a
  priori, ob sie möglich ist.
  Diese Dunkelheit wurde auch von Euklid bis auf Legendre, um
  den berühmtesten neueren Bearbeiter der Geometrie zu nennen,
  weder von den Mathematikern noch von den Philosophen,
  welche sich damit beschäftigten, gehoben."


Insofern man weitere Bestimmungen (Theoreme) aus den
"wesentlichen Bestimmungen in Form von Axiomen" ohne
Zuhilfenahme von räumlicher Anschauung ableitet, handelt
es sich um rein analytische Urteile. (Gemäss Einstein hat
Schlick 'Axiome' sehr treffend als 'implizite Definitionen'

bezeichnet).

Bei Euklids Axiomatisierung der Geometrie ist es viel
offensichtlicher als bei der Hilberts, dass die Annahme
geradezu absurd ist, auf so eine axiomatisch-formale
Weise (d.h. ohne räumliche Vorstellung) käme man z.B. zur
Erkenntnis, wie viele Platonische Körper es gibt.

Kant erkannte, dass geometrische Urteile nicht auf solche
analytische [formale] Weise zustande kommen, sondern
räumliche Anschauung voraussetzen. Und da nur das Gerade und
Gleichmässige als Fundament dienen kann, kommen gekrümmte
Anschauungsformen als Fundament erst gar nicht in Frage.
Das Gekrümmte ist nur vor dem Hintergrund von etwas als
ungekrümmt Gedachtem krumm, und ein Massstab kann sich
nur vor dem Hintergrund konstant gedachter Grössen ändern.

Gauss und Riemann benutzten wie Euklid eine (flache)
räumliche Anschauung, ohne sich dies klar einzugestehen,
und gelangten so zu einem ziemlich willkürlichen Gemisch
aus unbewusster apriorischer Anschauung und den darauf
konstruierten krummen Konzepten.

Ein Auszug aus Einstein's "Geometrie und Erfahrung"*:
(Mein Weltbild, Ullstein, 1988)

   "... und man fühlt sich zu folgender allgemeinerer Fassung
   hingedrängt, die Poincaré's Standpunkt charakterisiert:
   Die Geometrie (G) sagt nichts über das Verhalten der
   wirklichen Dinge aus, sondern nur die Geometrie zusammen
   mit dem Inbegriff (P) der physikalischen Gesetze.
   Symbolisch können wir sagen, dass nur die Summe (G)+(P)
   der Kontrolle der Erfahrung unterliegt. Es kann also
   (G) willkürlich gewählt werden, ebenso Teile von (P); all
   diese Gesetze sind Konventionen. Es ist zur Vermeidung
   von Widersprüchen nötig, den Rest von (P) so zu wählen,
   dass (G) und das totale (P) zusammen den Erfahrungen
   gerecht wird. Bei dieser Auffassung erscheinen die
   axiomatische Geometrie der zu Konventionen erhobene Teil
   der Naturgesetze als erkenntnistheoretisch gleichwertig.

   Sub specie aeternitatis hat Poincaré mit dieser Auffassung
   nach meiner Meinung recht."


Ein wesentliche Rechtfertigung, für (G) die n-dimensionale
euklidsche Geometrie zu wählen, habe ich in Raum, Zeit und
schwarze Löcher
geliefert:

 

"Nur Überlegungen unter Zuhilfenahme unserer natürlichen
Raum- und Zeitvorstellung geben uns eine Möglichkeit,
physikalische Theorien zu beurteilen. Man kann schlecht
beweisen, dass Voraussagen wie die der schwarzen Löcher
falsch sind. Dazu müsste man einen Widerspruch finden,
der sich nicht durch Zusatzannahmen entkräften liesse.
Die Unsinnigkeit solcher Voraussagen oder Zusatzannahmen
lässt sich nur durch Einsicht erkennen, Einsicht aber
setzt im Gegensatz zu rein formalem Ableiten einen Bezug
zur Anschaulichkeit voraus."

 

>> und zwar immer noch in der axiomatisch-formalen Tradition Euklids

> Ich habe die beiden grundlegenden Werke zitiert, da kann sich
> jeder selbst ein Bild machen, was die mit der "axiomatisch-formalen
> Tradition Euklids" zu tun haben.


Mit "axiomatisch-formaler Tradition" meine ich den Glauben,
dass die geometrischen Erkenntnisse sich ohne Zuhilfenahme
räumlicher Anschauung aus einem Axiomen-System ableiten lassen.

Dieser Glaube hielt sich trotz Kant und führte z.B. zur
Schaffung eines "vollständigen" Axiomen-Systems für die
euklidische Geometrie durch Hilbert, das im Wesentlichen
genauso daneben liegt, wie das Euklidische.

> Die Entdeckung Euklids, dass Teile (!) der Mathematik sich
> axiomatisch behandeln, war revolutionär und von der gleichen
> Grossartigkeit der Entdeckungen von Gauss und Riemann.


Man könnte es auch als einen gescheiterten Versuch ansehen,
in der Geometrie zu wiederholen, was in der Logik geschafft
wurde.

>> obwohl diese inzwischen mindestens von Kant überwunden worden
>> war.
>
> Dadurch, dass er den unendlichen euklidischen Raum mit den
> unanschaulich unendlich langen Geraden als notwendige Form
> der Anschauung postulierte?


Was ist die Alternative? Endliche Geraden? Wie lange? Und
wenn der Abstand zwischen Parallelen nicht gleichbleibt, soll
er sich vergrössern oder verkleinern?

Und was soll denn "unanschaulich" sein an Geraden ohne Ende?

> Und die newtonsche Zeit dazu, die später von Einstein erledigt
> wurde? ...


Einstein konstruierte mit den kantischen Anschauungsformen
von Raum und Zeit eine physikalische Raum-Zeit, aber wie Kant
gelangte er noch zu keiner bewussten Unterscheidung ZWISCHEN
reinen Anschauungsformen Raum und Zeit als Voraussetzung für
vernünftiges Denken UND physikalischem Raum und Zeit. Das
Verhältnis von räumlicher Anschauungsform zu physikalischem
Raum ist so wie der Verhältnis von Massstab zu Gemessenem.

>                                           Kant war sicher ein grandioser
> Philosoph, aber so wie ich sehe, nicht ein Universalgenie
> wie Leibniz, sodass ich mich angesichts seiner, und auch
> Deiner, Versuche in den Naturwissenschaften, animiert
> fühle auszurufen: Schuster, bleib bei deinem Leisten.


Ich glaube du unterschätzt Kant und überschätzt Leibniz,
der viel aus anderen Quellen schöpfte (z.B. aus Texten der
beiden innovativsten Begründer moderner quantitativer
Wissenschaft, Nikolaus Kusanus und Johannes Kepler).

Die naive (oder ängstlich-defensive?) Arroganz vieler
Physiker und Mathematiker gegenüber der Philosophie ist
schon erstaunlich. Diese Arroganz gegenüber der Philosophie
gab es in der Vergangenheit schon einmal, und zwar von
Seiten der Theologie. Aber moderne Mathematik und die Physik
mit fiktiven Teilchenhierarchien (analog Engelshierarchien),
Urknall (Schöpfungsmythos) und schwarzen Löchern (Höllen)
haben in vieler Hinsicht die Nachfolge der theoretischen
Theologie (die ich keineswegs geringschätze) angetreten.

 


Kant & Geometrie (Der Einfluss von Kant auf Einstein) – 16.04.2001

Hendrik van Hees am 9.4. :

>                     Die Krümmung ist eine intrinsische Eigenschaft des
> betrachteten Raumes. Das ist die große Erkenntnis von Gauß. Er
> hat sogar das einzig richtige getan, was er als universell gebildeter
> Mensch tun konnte: Er hat versucht zu messen, ob unser
> Anschauungsraum, in dem wir leben, gekrümmt ist oder nicht,
> und zwar durch Triangulation. Er hat da irgendwelche drei Berge
> genommen (einer war wohl der Brocken ;-)) und hat versucht
> eine Abweichung der Winkelsumme von Pi nachzuweisen, aber
> sofort gesehen, dass er das im Rahmen der Messgenauigkeit nicht
> entscheiden konnte.


Also so blöd kann Gauss selber als "universell gebildeter
Mensch" doch nicht gewesen sein. Um festzustellen, dass eine
Abweichung von der euklidischen Geometrie zwischen drei
benachbarten Bergen nicht "im Rahmen der Messgenauigkeit"
liegen kann, sind solche oberflächlichen Versuche ("sofort
gesehen") völlig irrelevant. Denn sowohl bei der Vermessung
der Erde (die ja nicht erst mit Gauss anfing) als auch beim
Planetensystem hatte immer alles die euklidische Geometrie
bestätigt.

Hendrik van Hees am 12.4.:

> Nochmal: Warum soll nicht auch ein nichteuklidischer Raum eine
> Anschauungsform sein können?


Warum soll nicht auch ein Metermass mit unterschiedlich langen
"Metern" (mit z.B. 20 cm als erstem "Meter", 30 cm als zweitem,
50 cm als dritten und so ähnlich weiter) zur Vermessung dienen?

Wolfgang Thumser am 12.4.:

:: Eine vernünftige Definition von Pi ist trotzdem möglich,
:: da das Verhältnis von Umfang zu Durchmesser immer gegen Pi
:: geht, wenn der Durchmesser gegen Null geht.
:
: Das ist schlichtweg falsch. In o.a. Topologie existieren bspw.
: nicht nullhomotope Kreise beliebig kleinen Umfangs, die sich
: überhaupt nicht auf einen Punkt zusammenziehen lassen.


Die "nicht nullhomotopen Kreise beliebig kleinen Umfangs" haben
nichts mit der Raumkrümmung zu tun, die wir hier diskutieren.

Natürlich lassen sich die willkürlichsten Konstruktionen
bilden. Aber trotzdem können wir allgemeine und transparente
Argumente nicht mit Hinweis auf solche Spezialkonstruktion
ausser Kraft setzen.

: Der Radius solcher Kreise (i. S. eines konstanten Abstandes zu
: einem vorgegebenen Punkt) geht gegen unendlich, wenn ihr Um-
: fang (und damit sie selbst) gegen null geht. ...


Im Zusammenhang räumlicher Kontinua halte ich das für
ziemlichen Nonsense.

:: Zudem haben z.B. wir eine vernünftige Definition von Pi,
:: obwohl die ART ein negativ gekrümmtes Universum nicht
:: ausschliesst.
:
: Das haben wir dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass die
: Krümmung, wenn existent, i.a. kaum messbar ist. ...


Selbst wenn wir eine Welt mit Krümmung im Meterbereich
bewohnen würden, wäre der Millimeterbereich ziemlich
flach. Die geometrische Definition von Pi bliebe völlig
unberührt und würde nach wie vor als ein Fundament des
Krümmungsbegriff dienen.

Stell dir einmal konkret ein Universum mit positivem
Krümmungsradius von 1 Meter vor. Es wäre dann die
Oberfläche einer 4D-Kugel mit 1 m Radius. Da hätte dann
nicht allzu viel Platz in diesem Universum.

:: Im Gegensatz zur üblichen Veranschaulichung (in Form eines
:: Sattels) herrscht in konstant negativ gekrümmten (genauso
:: wie in konstant positiven und flachen) Geometrien Homogenität
:: und Isotropie.
:
: Ein weiterer Schnellschuss: Es existieren sogar lokal flache Räume,
: die Du im kleinen nicht von einem euklidischen Raum unterscheiden
: kannst und die endliches Volumen besitzen. ...


Das halte ich für so un/sinnig, wie korrekte Aussagen über
Kugeln mit dem Hinweis zu widerlegen, dass die Aussagen
bei z.B. Würfeln nicht gelten.

Roland Harnau am 13.4.:

|                                  Die begriffliche Innovation der Einführung der
| Riemannschen  Geometrie war erst da möglich, als klar wurde, dass
| Krümmung unabhängig von einer Relation zu einem umgebenen
| euklidischen Raum aufgefasst werden kann. Deshalb hat Wolfgang
| bei der Verteidigung seiner These "
Raumkrümmung setzt die
| Vorstellung eines ungekrümmten Raums voraus" auch keine
| Probleme mit extrinsisch definierter Krümmung, wogegen er
| bestrebt sein muss, intrinsische Krümmung als "inkohärent"
| nachzuweisen.


Die These "Raumkrümmung setzt die Vorstellung eines
ungekrümmten Raums voraus" für sich ist auf jeden Fall gültig
 und setzt nicht einmal voraus, dass sich "intrinsische Krümmung"
 als inkohärent erweist.

Wolfgang Thumser am 15.4.:

:                                                           Was Kant für falsch hält, halte ich
: für wahr und wieder ein anderer für unentscheidbar. Ich für meine
: Person halte das Parallelenaxiom für ebenso anschaulich wie sein
: logisches Gegenteil. Will Kant mir vorschreiben, was ich für
: anschaulich zu halten habe?


Solange man rein sprachlich denkt, ist alles möglich. Richtig
erscheinen dann ganz einfach die Gedankengänge (die Verknüpfungen
von Begriffen), die man ähnlich wie körperliche Bewegungsabläufe
eingeübt hat.

Kants Bestreben war ja gerade, das "alles ist möglich (in der
Metaphysik)" in die Schranken der Vernunft zu verweisen.

Florian Weimer am 16.4.:

<< Die Frage, ob das Verzichten auf die zusätzliche Information, die in
<< der extrinsischen Krümmung liegt, nicht irgendwo zu Widersprüchen
<< führt, ist alles andere evident.
<
< Wenn ich auf Voraussetzungen verzichte, dann kann es höchstens
< passieren, dass gewisse Dinge nicht mehr entscheidbar sind, aber
< nicht, dass Widersprüche auftreten.


Wenn Autofahrer auf die Information verzichten, die in Ampeln
enthalten sind, kann das bös enden.

Konstant negativ gekrümmte Flächen sind weder in einem
3- noch einem anderen endlich-dimensionalen Trägerraum
möglich. Mit Trägerraum kann es für Punkte der Fläche
keine intrinsische Krümmungen geben, die dem "extrinsisch
Machbaren" widerspricht.

Verzichten wir auf die Information im Trägerraum, so fällt
ein einschränkendes Prinzip für intrinsische Krümmungen weg,
und mehr intrinsische Krümmungen werden möglich. Die Frage
stellt sich, ob das nicht Widersprüche nach sich zieht.

Solange man keine halbwegs konkreten Aussagen (z.B.
Entfernungsangaben macht, können Widersprüche natürlich
nicht erkannt werden.

<< Kant erkannte, dass geometrische Urteile nicht auf solche
<< analytische Weise zustande kommen, sondern räumliche
<< Anschauung voraussetzen.
<
< Das Urteil braucht sie vielleicht, aber der Satz und sein Beweis
< kommen ohne räumliche Anschauung aus.


Das wage ich zu bezweifeln. In zweittausend Jahren sind
viele Lücken in der euklidischen Axiomatisierung entdeckt
worden. Hilbert hat diese bekannten Lücken mit Zusätzen
geschlossen, und heutzutage glaubt man halt von Hilberts
System, was früher von Euklids geglaubt wurde. Für
praktische Zwecke dürfte es doch eher untauglich sein,
und solange es nicht benutzt wird, können auch keine
Unzulänglichkeiten zu Tage treten.

Dass sich jede Erkenntnis, nachdem sie gemacht worden ist,
in ein axiomatisches System binden lässt, ist trivial und
nichtssagend.

<< Und da nur das Gerade und Gleichmässige als Fundament dienen

<< kann, kommen gekrümmte Anschauungsformen als Fundament

<< erst gar nicht in Frage.
<
< Was ist das denn für ein Argument? ...


Eine Variante von Occam's razor.

<< Das Gekrümmte ist nur vor dem Hintergrund von etwas als
<< ungekrümmt Gedachtem krumm
<
< Die Krümmung eines mathematischen Objektes ändert sich
< doch nicht dadurch, was ich von ihm denke! Die Annahme des
< Gegenteils ist sicherlich verlockend, aber ich glaube nicht, dass
< wir diese erlauchte Position innehaben.


Hier scheint mir die Unterscheidung zwischen primären und
sekundären Begriffen wesentlich.

  "Die ursprünglichste Begriffsbildung ist die durch
  Abstraktion (bzw. Induktion). Ausgehend von fünf Fingern
  und von anderen Fünfergruppen kann selbst ein taubstummes
  Kind den Begriff 'fünf' bilden. Wenn ein Kind sprechen
  und schreiben lernt, werden mit diesem (primären)
  abstrakten Begriff zusätzlich die Worte (konkrete
  Zeichen) '5' und 'fünf' assoziativ verknüpft (durch
  Konditionierung). Da diese Worte in verschiedenen
  gesprochenen, geschriebenen und mentalen Formen
  vorkommen, führt das zur Bildung eines neuen, sekundären
  Begriffs aus diesen Formen. Eigentlich sind es solche
  sekundären Begriffe und nicht konkrete Zeichen, die mit
  primären abstrakten Begriffen assoziativ verknüpft sind.

  Wenn man ein Wort oft hört oder liest, es aber nicht
  gelingt, das Wort mit einem primären Begriff zu
  verknüpfen, übernimmt leicht der sekundäre Begriff die
  Funktion des primären. Das Wort steht dann für einen
  Begriff, der nur für sich selbst steht. Beim Lernen, wo
  und wann das Wort wie angewendet wird, entwickelt man
  ein Gefühl für den Begriff und glaubt ihn schliesslich
  zu verstehen. In vielen Fällen gibt es auch ein diffuses
  Nebeneinander zwischen einem (oder mehreren) primären
  und dem sekundären Begriff. Obwohl der Unterschied
  zwischen abstraktem Begriff und konkretem Zeichen
  spätestens im 12. Jh. bekannt war, ist er bis heute
  im wissenschaftlichen Bewusstsein kaum verankert."

  (Physik und Erkenntnistheorie)

Insofern "Krümmung" unabhängig von dem ist, was wir darüber
(anschaulich) denken, handelt es sich um einen rein sekundären
Begriff, der mit dem aus der Erfahrung abgeleiteten Begriff
"Krümmung" nur den Namen gemeinsam hat.

<                  Außerdem ergeben sich daraus extreme Probleme für
< die mathematische Methode, da man dann offenbar geneigt ist,
< weite Teile der Mathematik für nicht axiomatisierbar oder gar für
< die mathematische Methode unzugänglich zu halten.


Wesentlicher mathematischer Fortschritt setzt die Schaffung
sinnvoller Begriffe (z.B. "Platonischer Körper") und Intuition
voraus. Ein Gebiet lässt sich erst formalisieren, nachdem es gut
erforscht und verstanden ist.

Euklid begründete nicht die Geometrie, sondern er fasste
nur die in Jahrhunderten gemachten Erkenntnisse unter
seinen mindestens fragwürdigen Definitionen und Postulaten
zusammen.

 


Geometrische Probleme der ART (Kant & Geometrie) – 18.04.2001

 

Dass Einstein die allgemeine Relativitätstheorie nicht so
ernst nahm, dass er an die daraus ableitbaren "schwarzen
Löcher" glaubte, ist bekannt. Aber Einsteins Versuche,
schwarze Löcher zu widerlegen, waren verständlicherweise
durch sein instinktives Bestreben beeinträchtigt, das
eigene Kind nicht zu strangulieren.

Selbst wenn man solche Mathematik wie das Vertauschen
von Raum und Zeitkoordinaten innerhalb schwarzer Löcher
akzeptiert, haben wir folgendes fundamentale Problem:

Ist "schwarzes Loch" ein absolutes oder ein relatives (d.h.
beobachterabhängiges) Konzept?

 

  Schwarze Löcher treten in der Relativitätstheorie dort auf,
  wo in der  klassischen Physik die Entweichgeschwindigkeit
  grösser als die Lichtgeschwindigkeit ist, oder genauer, wenn
  die Potentialdifferenz vom Ort der Emission elektromagnetischer
  Strahlung bis zum Beobachter grösser als G = 0.5 c2 ist.  Wenn die
  Potentialdifferenz g kleiner als G ist, kann elektromagnetische
  Strahlung zum Beobachter gelangen, wobei es zu einer
  Frequenzabnahme um folgenden Faktor kommt:

       √ [1 - g2/G2]

  Wenn die Sonne auf die Grösse zusammenschrumpfen würde, bei
  der die Entweichgeschwindigkeit von ihrer Oberfläche exakt
  c beträgt, wäre sie ein Schwarzes Loch für Beobachter
  ausserhalb unserer Galaxie, denn g > G, nicht aber für
  Beobachter auf der Erde, denn g < G. Strahlung von der Sonne
  würde die Erde mit starker Frequenzabnahme erreichen. Aber
  unabhängig von ihrer Herkunft und Frequenz könnte Strahlung
  von der Erde einen Beobachter ausserhalb unserer Galaxie
  erreichen. Der Widerspruch ist offensichtlich. Ein analoger
  Widerspruch würde in der speziellen Relativitätstheorie bei
  sich mit Überlichtgeschwindigkeit voneinander entfernenden
  Beobachtern auftreten.


Siehe:
Black holes - relative or absolute?

Roland Harnau:

| Das ist ja gerade die Frage, der Poincaré nachgegangen ist. Wie
| sähe ein Experiment aus, das uns eine bestimmte Geometrie
| aufzwingt, ohne dass wir die Wahl haben, durch Uminterpretation
| der Korrespondenzregeln oder Verändern in der Theorie selbst
| eine euklidische Geometrie beizubehalten. Der Raum in unserer
| direkten Umgebung scheint ja annähernd flach zu sein.

Lass uns als reines Gedankenexperiment annehmen:

 - Es gelingt, verschiedene Galaxien(haufen), in jeweils
   entgegengesetzten Richtungen (und damit in unterschiedlichen
   Entwicklungsstadien und von entgegengesetzter Seite) zu
   beobachten.
 - Die geschätzten Abstände in beiden Richtungen ergeben
   zusammengenommen jeweils ungefähr denselben Wert U.

Dann wäre die bei weitem naheliegendste Annahme, dass unser
Weltall ungefähr die Struktur einer 3D-Oberfäche einer 4D-Kugel
mit Umfang U hat.

Also solche Fakten dann im Sinne einer drei-dimensionalen
euklidischen Geometrie zu interpretieren, wäre schlimmer
als nur das übliche Aufbereiten der Fakten (mit Hilfe von
ad-hoc-Hypothesen) zur "experimentellen Bestätigung" der
geglaubten Theorie.

Hendrik van Hees am 15.4.:

> Die Gravitation als solche wird durch die ART stets korrekt
> beschrieben, und die Periheldrehung des Merkur zeigt ganz klar die
> Nichteuklidizität der Raumzeit, denn ohne sie ist sie nicht
> erklärbar. ...

Die "relativistische" Periheldrehung an und für sich
lässt auch Erklärungen innerhalb der euklidischen
Geometrie zu, so z.B. meine "Trägheitsäther-Hypothese",
die annimmt, dass die Trägheitsbewegung eines Körpers
an die Bewegung aller Himmelskörper gebunden bleibt,
durch die er Gravitationspotential verloren hat, und
zwar proportional zum verlorenen Gravitationspotential:

  Merkur wird zu einem gewissen Anteil von der Sonne
  beinflusst. Da die Sonne rotiert, bewegt sich die dem
  Merkur zugewandte Seite der Sonne in Umlaufrichtung des
  Merkur und die abgewandte Seite entgegengesetzt dazu.
  Da die zugewandte Seite näher liegt, wirkt sie sich
  stärker auf den Trägheitsäther am Ort des Merkur aus
  als die abgewandte Seite. Der Trägheitsäther bekommt
  so eine tangentiale Bewegungskomponente, d.h. er rotiert
  in gewisser Hinsicht um die Sonne.

Diese Erklärung ist auch weit fruchtbarerer als die der
ART, denn anstatt im mathematischen Widerspruch (z.B.
wegen Division durch Null) eines schwarzen Lochs zu
enden, löst sie sogar andere offene Probleme:

   "Die aus der Bewegung des Trägheitsäthers resultierenden
   Abweichungen von den Voraussagen der klassischen
   Gravitationstheorie sind beim Planetensystem noch sehr
   klein. Sie werden aber mit zunehmender Grösse der
   kosmischen Gebilde (..., Galaxien, Galaxienhaufen, ...)
   immer grösser, denn das Trägheitsätherpotential
   zwischen den Gebilden wird immer kleiner und die eigene
   Wirkung auf den Trägheitsäther immer grösser. Dass die
   gemessenen Geschwindigkeiten umso mehr über den
   theoretisch erwarteten liegen, je grösser die untersuchten
   kosmischen Gebilde sind, ist bekannt und wird durch die
   Hypothese eines immer grösser werdenden Anteils von nicht
   beobachtbarer Materie erklärt."
(
Gravitation und Äther)

Hendrik van Hees am 17.4.:

>                              All diese Messungen sprechen dafür, dass wir in
> einem asymptotisch flachen (das dürfte ja dann den überzeugten
> Kantianer wieder freuen) Robertson-Walker-Friedmann-Lemaitre-
> Universum leben.


Ein flaches Universum führt wie das negativ gekrümmte zum
Paradox, dass die Raum-Zeit in alle räumlichen Richtungen
unbegrenzt ist, obwohl sie in zeitlicher Hinsicht aber in
eine Richtung als (vom "grossen Knall") begrenzt angenommen
wird.

In der speziellen Relativitätstheorie herrscht Symmetrie
zwischen Zukunft und Vergangenheit. Die Zeittransformation
t' = gamma
* (t – x v/c2sagt aus, dass in einem mit v bewegten
Bezugssystem F' in eine Richtung alles Vergangenheit und in die
andere alles Zukunft ist. Es gibt nichts, was die Zeitverschiebung
gamma
* (d v/c2) [mit d als Distanz in x-Richtung] daran hindern
könnte, minus 20 Milliarden Jahre zu unterschreiten.

 


Geometrische Probleme der ART (Kant & Geometrie) – 22.04.2001

Ilja Schmelzer:

>> Ist "schwarzes Loch" ein absolutes oder ein relatives (d.h.
>> beobachterabhängiges) Konzept?
>
> Ein absolutes.


Es gibt Überlegungen, die zeigen, dass "schwarzes Loch" ein
absolutes Konzept sein muss. Wenn es aber ebenso überzeugende
Gründe für die Annahme gibt, es müsse in gleicher Hinsicht ein
beobachterabhängiges Konzept sein, dann ist das Konzept wider-
legt --- ausser man greift zur stärksten Waffe der Bohrschen
Metaphysik, dem Widerspruchsprinzip-Ausserkraftsetzungsprinzip:

"Eine Theorie, aus der widersprüchliche Aussagen folgen, gilt in
der Logik als widerlegt. Um aber zwei solche Aussagen abzuleiten,
benötigt man zwei Ableitungen, die sich in etwas unterscheiden.
Man kann dann immer argumentieren, die beiden Aussagen seien
KOMPLEMENTÄR, d.h. sie seien im Sinne ihrer jeweiligen Ableitung
richtig."
(
Elektromagnetismus und Quantentheorien)

Widersprüche können auch beseitigt werden, indem die Begriffe
als komplementär (d.h. ableitungs- bzw. gedankengang-abhängig)
erklärt werden.

 

Anstatt der Widerlegung

  Ableitung 1:   x = 5 Meter
  Ableitung 2:   x = 7 Meter

haben wir dann

  Ableitung 1:   x = 5 A1_Meter
  Ableitung 2:   x = 7 A2_Meter

mit den komplementären Begriffen A1_Meter und A2_Meter.

 

Die Widersprüche der allgemeinen Relativitätstheorie führen
z.B. dazu, dass einfache Begriffe wie Masse oder Gravitations-
potential vermieden oder in verschiedene gedankengangabhängige
Begriffe aufgespalten werden müssen, um der Widerlegung der
Theorie zu entgehen.

>>   Wenn die Sonne auf die Grösse zusammenschrumpfen würde,
>>   bei der die Entweichgeschwindigkeit von ihrer Oberfläche
>>   exakt c beträgt, wäre sie ein Schwarzes Loch für Beobachter
>>   ausserhalb unserer Galaxie, denn g > G, nicht aber für
>>   Beobachter auf der Erde, denn g < G. Strahlung von der Sonne
>>   würde die Erde mit starker Frequenzabnahme erreichen.
>
> Falsch.  Dies gilt für Licht in der Newtonschen Theorie (samt
> Partikeltheorie des Lichtes) aber nicht für die ART.


Schwarze Löcher sind so definiert, dass sie dann auftreten,
wenn die klassisch gerechnete Entweichgeschwindigkeit von
ihrer Oberfläche mehr als c und der klassische Gravitations-
potential-Verlust somit mehr als G = 0.5 c2 beträgt.

Selbst wenn man den Gebrauch analoger Konzepte in der ART
verbietet, muss es trotzdem irgendeine Grösse Q geben, die
(entweder absolut oder relativ zu einem Beobachter) kontinuierlich
bis QschwarzesLoch anwachsen kann. Und solch eine Grösse Q
als absolute Grösse aufzufassen, widerspricht wesentlichen
Grundgedanken der ART.

Die Zeitverlangsamung gamma [Lorentzfaktor der SRT] ist am
Ereignishorizont (Schwarzschildradius) schwarzer Löcher unendlich,
d.h. die Zeit bleibt stehen:

  t = t0 /gamma    mit    gamma = unendlich

Wenn wir die Zeitverlangsamung gamma als (für die Bildung
schwarzer Löcher relevante) Grösse Q verwenden, dann folgt,
dass ein Ereignishorizont dann auftritt, wenn gamma = unendlich.

In der SR gilt für Zeitverlangsamung

  gamma[u+v] = gamma[u]
* gamma[v]    (Vorsicht: "+")

Aufgrund der Additionstheoreme, gilt dann  u + v < c  wenn u < c 
und  v < c. Wenn wir aber die Geschwindigkeit c (mit gamma[c]
unendlich) zulassen, bekommen wir das grosse Problem,
dass kein kontinuierlicher Übergang von gamma[v] zu gamma[c]
mehr möglich ist. Egal wie gross die Zeitverlangsamung bei
Annäherung von v gegen c geht, der qualitative Unterschied
von laufender zu stehender Zeit bleibt bestehen. Ob 1 zu
unendlich oder 10^(10^100) zu unendlich, ist in diesem
Zusammenhang ein und dasselbe.

Die ART ist mit der SRT unter anderem so verknüpft:

Die Zeitverlangsamung über kleine Potentialunterschiede stimmt
mit der Zeitverlangsamung DER Geschwindigkeit überein, DIE ein
ruhender Körper beim Fall durch diesen Potentialunterschied
annimmt. (Da gemäss ART c eine universelle Konstante ist,
ist auch der Potentialunterschied 1 m2/s2 = c2 / 9
*1016 überall
definiert.)

Das heisst dann: Ganz egal von wie nahe am Ereignishorizont
ein Probekörper fallen gelassen wird, bis zum Ereignishorizont
wird er immer auf c (mit gamma = unendlich) beschleunigt, was
nichts anderes bedeutet, als dass die "Entweichgeschwindigkeit"
vom Ereignishorizont zu JEDEM Punkt ausserhalb dieses Horizonts
c beträgt!

Hier kann man einwenden, dass gemäss vorherrschender Theorie
Probekörper (genauso wie Photonen) unabhängig davon, von wie
nahe am Ereignishorizont sie fallen gelassen werden, in alle
Ewigkeit fallen, den Ereignishorizont jedoch NIE (Eigenzeit
ausgenommen) erreichen werden.

Das zieht aber einen anderen Widerspruch nach sich:

Schwarze Löcher tauschen nach wie vor Impuls mit den
benachbarten Himmelskörpern aus, und zwar mittels sich
mit c ausbreitenden Kraftfeldern. Wie soll das aber
funktionieren, wenn das als Musterbeispiel einer Ausbreitung
mit c geltende Licht in endlicher Zeit nicht einmal den
Ereignishorizont eines schwarzen Lochs erreichen kann?

Wenn uns die Relativitätstheorie etwas lehrt, dann dass
geglaubte Theorien genausowenig widerlegbar sind, wie nicht-
geglaubte beweisbar sind. Logische Widersprüche können
immer durch Zusatzhypothesen ausser Kraft gesetzt werden,
und die Widerlegung solcher Zusatzhypothesen durch neue
Zusatzhypothesen.

Und solange man Ockhams Rasiermesser nicht ernst nimmt,
und sich somit nicht auf die direkten Interpretationen
der experimentellen Fakten beschränkt, sind Theorien auch
experimentell nicht widerlegbar.

Ein schönes Beispiel ist Brillet and Hall's Ätherdrift-Experiment
von 1978, dessen beeindruckende
quantitative Bestätigung
meiner
Relationalitätstheorie (ein "Ätherdrift" von 200 m/s)
einfach zum unerklärten "persistent spurious signal" erklärt wird,
damit das Experiment als Bestätigung der Relativitätstheorie
interpretiert werden kann.

 


Kant & Atheismus & Ontologischer Gottesbeweis (...) – 11.05.2001

Andreas Keller:

> Kann man Kant als Atheisten bezeichnen?
>
> Dieser Frage ging ich nach und habe in "Weisheit der Welt" (Natzmer,
> Safari-Verlag) folgendes gefunden:
>
>   "Die Gebote der Moral sind also für Kant nicht von der Religion
>   gesetzt, sondern die Moral begründet die Religion. Das Sittengesetz
>   gilt nicht deshalb, weil es von Gott gegeben wurde, sondern wir
>   nennen es göttlich, weil es ein ewiges Vernunftgesetz ist. So
>   erscheint die Religion gleichsam als populäre Einkleidung des
>   Sittengesetzes."

Kant war in der Tiefe viel atheistischer als an der Oberfläche.
Meines Erachtens führt Kant in dieser Hinsicht direkt zu Ludwig
Feuerbach, der klar und direkt die Auffassung vertrat, dass
(ein mehr oder weniger persönlicher) Gott nur eine menschliche
Konstruktion/Projektion darstellt.

Als weiteres Beispiel für Kants Atheismus kann die Passage
"Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein
Gottes" aus der K.d.r.V., B 620-631 dienen.

Ich habe diese Stelle Kants vor mehreren Jahren einmal auf
meine Weise modernisiert und gekürzt. Hier wesentliche Auszüge
dieser Bearbeitung (Zahlen beziehen sich auf die durchnummerierten
Abschnitte von Kants Original):

  1) Die Vernunft mag den Begriff 'Gott' benötigen. Die Existenz
  eines Begriffs beweist jedoch nicht die Existenz eines ihm
  entsprechenden Dings. 2) Man hat sich bisher weniger bemüht,
  eine konkrete Vorstellung von Gott zu bilden als seine Existenz
  zu beweisen. Eine mögliche Definition von Gott ist einfach:
  Etwas, dessen Nichtexistenz unmöglich ist. Weil man sich aber
  kein konkretes Ding vorstellen kann, dessen Nichtexistenz
  apriori unmöglich ist, ist obige Definition kaum hilfreich zur
  Bildung einer Vorstellung von Gott.

  3) Der Begriff 'Gott' entstand zufällig und wurde immer
  geläufiger. Man glaubte, ihn durch viele Beispiele erklären zu
  können, und seine Geläufigkeit liess weitere Untersuchungen
  unnötig erscheinen.

  Sätze der Geometrie wie 'ein Dreieck hat drei Winkel' sind
  apriori gültig. 4-7) Ähnlich glaubte man von etwas, das
  ausserhalb unserer Vorstellung liegt, urteilen zu können. Das
  führte zu folgender Illusion: Man kann einen Begriff bilden, in
  dessen Begriffsintension man die Existenz des dem Begriff
  entsprechenden Dings hineinnimmt. Man könnte z.B. ausgehend

  vom Begriff 'Kö-d-un', der vollständig durch das Prädikat 'König
  des Universums' definiert sein soll, durch Hinzufügen des
  Prädikats 'existierend' den neuen Begriff 'E-ködun' bilden, und
  dann die Existenz eines Königs des Universums aus dem Begriff
  'Eködun' ableiten.

  *) ... Von der Existenz von Begriffen kann nicht auf die Existenz

      von Dingen geschlossen werden.

  8) Es ist nicht sinnvoll, die Existenz, unter welchem versteckten
  Namen auch immer, in die Begriffsintension hineinzunehmen
  (z.B. bei Mammut, Elefant, Zyklop, Ufo, Telepathie). Macht man
  dies beim Begriff 'Gott', z.B. indem man sich ihn aus allen positiven
  Prädikaten, zu denen auch 'Existenz' gehören soll, zusammen-

  gesetzt denkt, so ist die Existenz Gottes scheinbar bewiesen. 'Gott

  existiert' wäre  demnach genauso wie 'Zyklopen sind einäugig'
  ein analytisches Urteil, obwohl Existenzaussagen allgemein als
  synthetische Urteile angesehen werden.
  ...

  11) ... Denke ich mir nun Gott als 'höchste Realität ohne  Mangel',
  so bleibt die Frage, ob Gott existiert oder nicht. Denn obwohl es
  Gott in meiner Vorstellung an nichts fehlt, so bleibt offen, ob Gott
  in der Realität aposteriori erkannt werden kann.

  12) Ein Begriff mag enthalten, was er will. Um aber zu erkennen,
  ob ein ihm entsprechendes Ding existiert, müssen wir über den
  Begriff hinausgehen. Bei Dingen der Sinne muss eine Verknüpfung
  mit Wahrnehmungen gegeben sein. Aber für Begriffe von Dingen,
  die ausserhalb des empirisch Wahrnehmbaren liegen, gibt es keine
  Möglichkeit, ihre Existenz zu erkennen, weil diese gänzlich
  apriori erkannt werden müsste. Die Existenz solcher Dinge
  anzunehmen, ist eine Hypothese, die prinzipiell möglich, aber
  durch nichts zu rechtfertigen ist.

Die gesamte Bearbeitung:
--> 30.9.93

 


Kant & Atheismus & Ontologischer Gottesbeweis (…) – 14.05.2001

Malte Lippmann:

> bitte um Vergebung für meine Ahnungslosigkeit.
> Nach erster Lektüre des u.a. links möchte ich nur fragen, ob alle
> Beiträge in einem approbiert wissenschaftlichem Sinne ernst zu
> nehmen sind.
> Betrifft nicht Deine Ausführungen über Kant. ;-)


Betrifft es Stellen wie diese:

  "Wenn ich einmal abgetrieben worden wäre, würde mich das nicht
  stören, im Gegenteil, ich wäre dankbar, nicht als unerwünschtes
  Kind aufgewachsen zu sein."
(
--> 13.4.97)

Bis auf möglicherweise eine Quäntchen unumgänglicher (Selbst-)
Ironie und Spott sind alle meine Ausführungen ernster gemeint
als es den Anschein haben mag.

Malte Lippmann:

> Kant war IMHO kein A-theist.

Ob man Kant als Atheisten bezeichnet oder nicht, ist m.E.
reine Definitionsfrage. Dass die Unterscheidung Theist/Atheist
nicht ausreicht, zeigt sich noch stärker als bei Kant bei Spinoza,
der zwar einen persönlichen Gott leugnete, andererseits aber
den Begriff "Amor Dei" als geistige Liebe zu Gott prägte.

Während meinen Diskussionen in talk.origins über Evolution
habe ich auch für mich (als einer der nicht an Gott glaubt)
feststellen müssen, dass ich in vieler Hinsicht mehr mit
Vertretern des theistischen Lagers als mit denen des
atheistischen (materialistischen) Lagers gemein habe.

Siehe:
Continuity between Creationism and Evolutionism

Wenn sich (ernst gemeinte) Stellen bei Kant finden lassen,
die für einen Glauben Kants an (einen mehr oder weniger
persönlichen) Gott (den man z.B. im Gebet anspricht) sprechen,
müsste ich meine Sicht auf Kant überdenken.

Aber wie einseitig eigene Sichten auf bekannte Philosophen
sein können, wurde gerade in der Diskussion "Die Welt ist
meine Vorstellung - wider den Idealismus" vordemonstriert.

> Er ist also Schöpfer einer Transzendentalphilosophie, die die
> Bedingungen der Möglichkeit von Denken und weiterhin Philosophie
> (Metaphysik) zu klären versucht.
> Hier kann er gar nicht auf den Begriff "Gott" verzichten, kommt
> aber zu der IMHO überzeugenden Erkenntnis, dass es nicht
> vernunftnotwendig sei (reine Vernunft), den Begriff "Gott" mit
> etwas Seiendem zu verbinden, da ihm die sinnliche Erfahrung,
> resp. Anschauung mangelt.


Meines Erachtens macht Kants "Ding an sich" am ehesten in
einem theistischen Kontext Sinn. Die Welt "an sich" ist die
Welt unabhängig von menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis,
d.h. die Welt wie sie sich Gott präsentiert.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

1)  Kant startet seine Philosophie mit dem Ding an sich, das als
     ursprüngliche (absolute/objektive) Realität angesehen wird.

2)  Kant verwirft das Ding an sich insofern, als es für uns
     Menschen prinzipiell unerkennbar und somit nutzlos und
     irrelevant ist.

3)  Kant verwendet Begriffe wie "absolut", "objektiv", "real"
     für die (inter)subjektiv wahrgenommene Welt.


(Bei den Gegensatzpaaren relativ/absolut und subjektiv/objektiv
ist man sich meist nicht bewusst, dass sie von Voraussetzungen
abhängen. (
--> "Relativ - absolut, subjektiv - objektiv")

 

Wenn z.B. Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie Kant
anthropozentrische Arroganz vorwerfen, so übersehen sie diese
Zweideutigkeit in Kants Sprachgebrauch, z.B. in Aussagen wie
"die menschliche Vernunft schreibt der Natur die Gesetz vor"
die Zweideutigkeit von "Natur":

 1.  Natur an sich (d.h. unabhängig von menschlichem Bewusstsein,
      was auch immer das bedeuten mag)

 2.  die von uns Menschen wahrgenommene Natur


Mein persönlicher Standpunkt in dieser Frage:

   Alle Empfindungen, Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind uns
   nur als Projektionen auf unsere menschliche Seele gegeben. Eine
   vom subjektiven Innenaspekt völlig freie 'objektive' Erkenntnis
   ist unmöglich. Objektivität kann nicht mehr als optimale,  ideale
   Intersubjektivität sein. (
Die menschliche Seele)

Meine persönliche Meinung über den "Begriff" Gott, der auch in
meiner Psyche sehr tief verwurzelt ist:

   Aufgrund der Reinkarnation haben wir für viele Begriffe, sprachliche
   Strukturen und Vorstellungen eine angeborene Prädisposition. Was
   schon in früheren Leben für uns Gültigkeit besass, glauben wir
   intuitiv zu verstehen. Solche 'angeborenen Ideen' können eine
   starke Macht auf unser Denke ausüben. Ein typisches Beispiel
   hierfür ist der Begriff Gott. (
--> "Erkennen, Sprache, Logik")

> Deshalb also das Postulat Gottes, welcher allein das Gute, das
> Vollkommene zu verbürgen vermag.


Kant hat sich redlich bemüht, mit dem Begriff "Gott" etwas
Sinnvolles anzustellen.

> Der langen Rede kurzer Schluss: Kant war IMHO A-gnostiker, aber
> nicht A-theist.


Dem kann ich zustimmen, auch wenn Kants öfterer Hinweis auf
das, was gemeinhin als Ockhams Messer bezeichnet wird, einem
unerkennbaren Gott das Fundament entzieht.

> Mein Lehrer erzählte immer gern folgende Geschichte, die ich aus
> dem Gedächtnis wiedergebe:
> Als Professor war Kant von Amts wegen gehalten, seine Studenten
> jeden Sonntag zum Gottesdienst zu bringen.
> Er tat dies auch, getreu seiner Überzeugung, dass niemand gegen ein
> allgemein geltendes Gesetz verstossen dürfe, blieb aber regelmässig
> an der Schwelle des Gotteshauses stehen, betrat die Kirche nicht
> und sagte: Hier, meine Herren, endet die Pflicht!


Und die Moral der Geschicht: Kant hielt es für seine Pflicht, seine
Mitmenschen nicht (mit Atheismus) zu provozieren.

 


Zu Kant (Wo sind hier die Schopenhauerianer?) – 29.05.2001

Roland Harnau:

>   Arthur Will:
>> Es ist in sich widersprüchlich, wenn man ein Ding an sich als

>> Ursache der Erscheinungen statuiert, nicht jedoch den inneren
>> Zusammenhang zwischen beiden thematisiert. Für Kant ist doch
>> die Kausalität richtigerweise eine Kategorie, oder stimmst du mir
>> da auch nicht zu? Nur die Kausalität vermittelt dem erkennenden
>> Subjekt Erfahrung in der Form der zeitlichen Wahrnehmung.
>>  Richtig? Wäre nun ein Ding an sich Ursache, wäre es Bestandteil
>> einer Kausalkette, was aber wiederum ein Widerspruch zum

>> Begriff "Ding an sich" darstellt, da es im Sinne Kants nur negativ
>> gedacht werden kann und jenseits aller Erkenntnis liegt.
>
> Diesen Einwand Schopenhauers gegen Kants Kausalitätsbegriff,

> den er einmal als Verstandeskategorie auffasst, und ihn damit
> notwendig auf die Gegenstände als Erscheinung beschränkt, ein
> andermal aber das der Erfahrung unzugängliche Ding an sich zur
> Ursache der Erscheinungen erklärt, halte ich auch für stichhaltig,
> und eine Antwort eines Kantianers dazu wäre interessant.


Ich bin zwar kein Kantianer, aber der Meinung, dass vieles von
bleibendem Wert in Kants Philosophie steckt. (Somit bin ich mehr
an konsistenten Gedankengängen aufbauend auf Kants Philosophie
denn an buchstabengetreuer Interpretation Kants interessiert.)

Ich halte die Kritik daran, den Begriff der Kausalität im
Zusammenhang mit dem Ding an sich zu verwenden, für
unberechtigt. Kausalität hat Gültigkeit innerhalb der
(intersubjektiven) Sinnenwelt, d.h. unsere Wahrnehmungen
und Erkenntnisse sind kausal untereinander verknüpft.

Es folgt kein Widerspruch aus der Annahme, die Sinnenwelt sei
zudem kausal von einer nicht näher präzisierbaren "Welt an sich"
abhängig, INNERHALB derer das für die Sinnenwelt zuständige
Vernunftprinzip "Kausalität" nicht weiter Sinn macht.

Als Analogie:

- Alle Orte in Sinnien sind miteinander durch Strassen verbunden.

- In Transsinnien gibt es überhaupt keine Verbindungen durch
  Strassen.

- Trotzdem können alle Orte Sinniens durch Strassen mit
  Transsinnien verbunden sein.

 

>  "In der Tat, wenn wir die Gegenstände der Sinne, wie billig, als bloße
>  Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hierdurch doch zugleich,
> dass ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe
> gleich  nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine
> Erscheinung, d.i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten
> Etwas affiziert werden, kennen." (Kant, Prolegomena, §32)

Die Aussagen dieser Zeilen lassen sich so zusammenfassen:

- Gegenstände der Sinne sind Erscheinungen, denen ein Ding
  an sich zugrunde liegt

- Die Beschaffenheit des Dings an sich ist unbekannt

- Das Ding an sich affiziert unsere Sinne

 

Also meines Erachtens macht sich Karl Wagner mit seiner Ansicht,
die Existenz des Dings an sich sei nach Kant nicht gegeben,
dessen schuldig, was er gestern in diesem Zusammenhang einem
anderen vorgeworfen hat:

| Ich denke du gehst hier einfach deiner eigenen Spitzfindigkeit
| auf den Leim:
|
| Ein Grund ist ... nicht eine Kausalursache sondern ein leerer
| Grenzbegriff.


Kants "Ding an sich" ist möglicherweise gar nicht so weit
von Spinozas einziger Substanz "Deus sive natura" mit ihren
unendlich vielen Attributen entfernt. Und von dieser einen
Substanz, von der uns Menschen nur die zwei Attribute
"res extensa" (Raum, Materie) und "res cogitans" (Denken/
Bewusstsein)  zugänglich sind, sagt Spinoza ganz klar die
Existenz aus: "Ad substantiam pertinet existere."


Zu Kant (Wo sind hier die Schopenhauerianer?) – 30.05.2001

Verena Link:

> Wenn man nun aber zwischen den Momenten "Ding an sich" und
> "Subjekt" eine reale Beziehung im Sinne von Kausalität postuliert,
> verkennt man deren bloß theoretischen Charakter und macht aus
> Artefakten der Theoriebildung reale Sachverhalte, d.h. man macht
> sich einer "Verdinglichung" von (bloß) theoretischen Momenten
> (nämlich "Ding an sich" und "Subjekt" als Resultate der Analyse)
> schuldig.


Solange den "Artefakten der Theoriebildung" (z.B. Wahrscheinlichkeit,
Gravitation, Elektron, Photon) keine "realen Sachverhalte"
entsprechen, sind die entsprechenden Theorien sinnlos.

> Das "Ding an sich" markiert also die Grenze zu der ontologischen
> Position des Realismus und damit die neuzeitliche philosophische
> Grundstellung, dass Erkenntnis immer nur "subjektiv" vermittelte
> Kenntnis von den Dingen ist, unser "Wissen" von den Dingen nur im
> und durch das Subjekt konstituiertes (und solchermaßen vermitteltes)
> Seiendes betrifft, aber niemals die Dinge selbst, so wie sie in ihrem
> (unmittelbaren, unvermittelten) "An-sich-sein" sind.


Dem stimme ich zu.

Aber wenn man die Existenz des "Dings an sich" negiert, bleibt
nur mehr Vermittlung ohne zugrunde liegendes Vermitteltes, was
in etwa die Position des Idealismus ist.

Aber andererseits führt die Leugnung der Existenz des "Dings an
sich" direkt zu einer philosophischen Position die als Realismus
bezeichnet wird. Nicht einmal "naive" Realisten dürften dagegen
etwas einzuwenden haben, dass das "Ding an sich" widerspruchsfrei
denkbar ist (und für philosophische Systeme nützlich sein kann).

Es ist Kants Schicksal, dass Idealisten seine Philosphie als
Idealismus und Realisten sein System als eine Variante des
Realismus für sich reklamieren. Kant vertrat in der Idealismus-
Realismus-Debatte (ähnlich wie Abaelard im Unversalienstreit
zwischen Nominalismus und Begriffsrealismus) eine vermittelnde
Position.

>                                                                             Niemals gemeint,
> ist jedoch eine real existierende Korrelation (in Form einer
> Kausalbeziehung) zwischen den beiden "seienden" Gliedern "Ding
> an sich" und "Subjekt" auch wenn das manche Formulierungen
> (z.B. "Affizierung") von Kant zu suggerieren scheinen.


Wenn ich sage, einem Dreieck liegen drei Strecken zugrunde,
argumentiere ich insofern kausal, als man durch entsprechendes
Verknüpfen dreier Strecken ein Dreieck verursachen kann.
Genauso wie die Existenz dieses Dreiecks die Existenz der drei
Strecken voraussetzt, so setzt die EXISTENZ der "subjektiv
vermittelten" Welt die EXISTENZ einer unvermittelten "Welt
an sich" voraus. Ich halte es für eher grotesk, die Existenz
der "subjektiv vermittelten" Welt nur mit dem BEGRIFF (bei
Nichtexistenz) einer unvermittelten Welt an sich zu begründen.

Diese Welt an sich (d.h. unabhängig von menschlichen
Anschauungsformen, Kategorien und Begriffen) ist insofern
ein Grenzbegriff, als wir nicht mehr über sie aussagen können,
als dass unsere Sinnenwelt von ihr begrenzt und mitverursacht
wird. Obwohl unsere Anschauungsformen und Kategorien innerhalb
dieser "Welt an sich" nicht mehr angewandt werden können,
können sie trotzdem auf den Übergang (die Grenze) von
der wahrgenommenen Welt zur Welt an sich angewandt werden.

Man darf die Polemik Kants gegen die Metaphysik (Mystik,
Theologie) seiner Zeit und insbesondere gegen deren willkürliche
Begriffe (Noumena) ohne Bezug zur (wahrgenommenen)
Realität nicht auf den Begriff "Ding an sich" selber anwenden.

Das "Ding an sich" ist, wenn auch nicht etwas im positiven
Sinne Gegebenes, so doch ein klarer, die wahrgenommene Welt
begrenzender Begriff. Unzulässig ist nur, wenn wir über das,
was ausserhalb der Grenze der Sinnenwelt liegt, glauben so
urteilen zu können, wie wir es von der Sinnenwelt her gewohnt
sind.

So gesehen ist schon der Begriff "Ding an sich" problematisch,
da er suggeriert, "Ding an sich" sei etwas zählbares. Der
Begriff "Ding an sich" ist somit ein Argument für eine Sprache,
in der man nicht notwendigerweise zwischen zählbaren
(z.B. Molekül) und nicht-zählbaren (z.B. Luft) Substantiven,
und innerhalb der zählbaren nicht zwischen Einzahl (Ding an
sich) und Mehrzahl (Dinge an sich) unterscheiden muss.

Das einzige wesentliche Argument, das gegen die EXISTENZ des
"Dings an sich" vorgebracht werden kann und das ich in meinem
vorigen Beitrag entkräftet habe, lässt sich so überzeichnen:

 

Kant: "Es existiert ein Bereich, über den wir keine Aussagen
           machen können."

Sophist:  "Kant widerspricht sich, da er eine Aussage über diesen
                 Bereich macht."

 


Kants Ding-an-sich (Wo sind hier die Schopenhauerianer?) – 05.06.2001

Roland Harnau:

>    Karl Wagner:

>>  Es wird also gezeigt, dass das Ding an sich, als das Gedachte
>>  vom Ding als Erscheinung getrennt betrachtet werden muss,

>> weil sonst Widersprüche entstehen.

> Ja. Hier ist aber zwischen Begriff und Objekt zu unterscheiden.

> Wir haben einen Begriff vom Ding an sich (d.h. wir können es
> denken), der nach Kant aber insofern "blind" ist, als dass die
> Existenz eines korrespondierenden Objekts nicht erkenntnis-
> theoretisch gerechtfertigt werden kann, und diesem Diktum
> bleibt er nicht überall treu.

 

Die Existenz des Dings-an-sich bzw. der Welt-an-sich kann sehr wohl

erkenntnistheoretisch gerechtfertigt werden, da es ja den ganzen

Bereich umfasst, für den wir blind sind. Eine Analogie aus der Zeit,

als die Erde noch flach war:

 

   Aussagen über die Rückseite des Monds waren damals reine

   Spekulation, und der von Kant kritisierten Metaphysik entsprachen

   z.B. Theorien, gemäss denen die Mondrückseite aus Regionen (z.B.

   "Wohnbezirken für Engel") mit speziellen Eigenschaften besteht.

 

   Kant sagt dann, dass keine Aussagen über die Mondrückseite

   möglich sind, da die Mondrückseite in keiner Weise mit unseren

   Wahrnehmungen verknüpft ist. Die eigens für die Mondrückseite

   geschaffenen Begriffe (z.B. "Engelsbezirk") kritisiert er.

 

   Aber obwohl keine Aussagen über die Existenz der solchen

   Begriffen entsprechenden Objekte möglich sind (da in Bezug auf

   die Mondrückseite Blindheit herrscht), ist die Existenz der

   Mondrückseite als Ganzes doch aus anderen Überlegungen

   gesichert.

 

Kants Aussagen zum Ding-an-sich sind im Wesentlichen nicht

widersprüchlich, höchstens unklar und unvorsichtig formuliert. Nur
weil Schopenhauer einem eher sophistischen Argument Autorität

verleiht, wird diese Argument noch lange nicht wesentlich.

 

Kant sagt über die Welt-an-sich im Wesentlichen nicht mehr aus,

als dass sie für Existenz und Beharrlichkeit der Sinnenwelt

Voraussetzung ist.

 

Spricht Kant der Welt-an-sich somit Beharrlichkeit zu? Nein.

 

Denn die Welt an sich könnte ja ein Raumzeitkontinuum ala

Relativitätstheorie sein, in dem Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft von Ort und Bewegung abhängen und irgendwie gleichzeitig

präsent sind. Von einem solchen Raumzeitkontinuum als Ganzem

Beharrlichkeit (in der Zeit) auszusagen, ist offensichtlich

unsinnig.

 

Und behauptet Kant von der Welt-an-sich die Gültigkeit des

Kausalitätsprinzips? Nein.

 

Dass die Welt-an-sich in einem zentralen Argument zur Mit-URSACHE

der Sinnenwelt erklärt wird, hat nicht zur Folge, dass dann

KAUSALITÄT auch sonst für die Welt-an-sich anwendbar sein müsste.

Insbesondere ist gemäss Kant kein Argument möglich, in der die

(oder ein Teil der) Welt-an-sich als WIRKUNG aufscheint.

 

Spricht Kant der Welt-an-sich aber Existenz zu? Ja und Nein.

 

Hier eine weitere (nur partiell relevante) Analogie, diesmal unter

der Hypothese, das Weltall sei die drei-dimensionale Oberfläche

eines vier-dimensionalen kugelförmigen Weltalls-an-sich:

 

   Insofern wir dann als Realität nur das Innere des Weltalls

   bezeichnen, existiert das Weltall-an-sich nicht in der Realität.

   Aber trotzdem existiert das Weltall-an-sich dann insofern (und

   nicht nur als etwas Gedachtes), als Nicht-Existenz des

   Weltalls-an-sich die Nicht-Existenz des Weltalls nach sich

   ziehen würde.

 


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